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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0454
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 322-323 439

5), und „die unruhigen Seelen" (323, 9 f.) zu besänftigen wünscht. N. revidiert
sogar seine sonstige Kritik an der ethischen Vorstellung des „Nutzens" im Sin-
ne einer Förderung des Gemeinwohls. In seiner Auseinandersetzung mit John
Stuart Mills „Utilitarismus" lehnt er sie strikt ab (vgl. NK Μ 106). Jetzt dagegen
erklärt er: „So, in dieser mittelbaren Art sorgen und wachen wir für den Nut-
zen Aller" (323, 6 f.). Die seit Herder in der deutschen Tradition verwurzelte
organologische Interpretation geschichtlicher und geistiger, nicht zuletzt auch
gesellschaftlicher Prozesse unterscheidet sich allerdings von dem eher pragma-
tisch und ökonomisch orientierten Utilitarismus, wie er schon von Adam Smith
und dann von Mill konzipiert wurde: von der englischen Spielart des Utilitaris-
mus.
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323, 18 Auf Umwegen.] Der aufklärerischen Tendenz zu physiologischen
Erklärungen und Reduktionen folgend, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts eine neue, naturalistisch verstärkte Konjunktur hatte, führt N. hier
seine eigene Gedankenrichtung auf die „persönlichen" (323, 28 f.) Lebensnot-
wendigkeiten zurück, welche die Philosophie lediglich „in Vernunft zu überset-
zen" unternimmt (323, 20). Aufgrund seiner permanenten gesundheitlichen Ge-
fährdung, die zahlreiche Briefe bezeugen, suchte N. immer wieder nach einer
zuträglichen „Diät" (323, 29) und nach einer diätetischen, bekömmlichen Le-
bensweise. Deshalb mutiert hier die physiologisch durch „Triebe" bestimmte
Disposition zu einem spezifisch „persönlichen" Bedürfnis, sodass auch die Phi-
losophie als dessen intellektuelle Transformation verstanden werden kann: als
Philosophie für den Hausgebrauch. In einem nachgelassenen Notat aus der
Entstehungszeit der Morgenröthe heißt es (NL 1880, 6[130], KSA 9, 229): „Der
Intellekt ist das Werkzeug [!] unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei.
Er schärft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thätig-
keit jedes einzelnen Triebes dadurch. In unserer größten Gerechtigkeit und
Redlichkeit ist der Wille nach Macht, nach Unfehlbarkeit unserer Person: Skep-
sis ist nur in Hinsicht auf alle Autorität, wir wollen nicht düpirt sein, auch
nicht von unseren Trieben! Aber was eigentlich will denn da nicht? Ein
Trieb gewiß!" Den Hintergrund dieser Ausführungen bildet Schopenhauers
Darlegung im zweiten Band seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstel-
lung. Er konstatiert - und behauptet selbstbewusst diese Einsicht als seine gro-
ße Neuerung in der Geschichte der Philosophie -, dass „der Wille [d.h. die
Triebsphäre in ihrem elementaren Drang] stets als das Primäre und Fundamen-
tale auftritt und durchaus [im alten Wortsinn: ganz und gar] den Vorrang be-
hauptet vor dem Intellekt, welcher sich dagegen durchweg als das Sekundäre,
 
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