442 Morgenröthe
eure Tugenden!" (325, 20 f.) Dieselbe Anweisung hatte N. fast wortgleich bereits
in einem nachgelassenen Notat vom März 1875 festgehalten: „Gehet hin und
verbergt eure guten Werke und bekennt vor den Leuten die Sünden, die ihr
begangen. / Buddha" (MA 607; 3[1], KSA 8, 14). Das Buddha-Zitat stammt nicht,
wie immer wieder vermutet wird, aus den Indischen Sprüchen von Böthlingk,
sondern von F. Max Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissen-
schaft. Vier Vorlesungen im Jahre MDCCCLXX an der Royal Institution in London
gehalten / nebst zwei Essays „Über falsche Analogien" und „Über Philosophie
der Mythologie" (1874, BUB). Im Kontext lautet das Buddha-Zitat bei F. Max
Müller: „Ebenso [wie die legendenhaften Wunder, die Mohammed angedichtet
wurden] fliessen die Buddhistischen Legenden von erbärmlichen Wundern
über, welche Buddha und seine Jünger vollbracht haben sollen, Wunder, die
an Wunderlichkeit die Wunder aller andern Religionen weit überbieten, wäh-
rend in ihren eigenen kanonischen Schriften die Worte Buddha's aufbewahrt
sind, mit denen er seinen Jüngern wehrt, Wunder zu thun, selbst wenn das
Volk nach Zeichen und Wundern verlange, damit es glauben könne. Und was
war das Wunder, welches Buddha von seinen Jüngern forderte? ,Gehet hin',
sagt er, ,und verbergt eure guten Werke, und bekennt vor den Leuten eure
Sünden, die ihr begangen'. Das ist das wahre Wunder" (Müller 1874, 25 f.). Die
Pointe von M 558 ist wiederum moralkritisch, indem zweimal auf die (morali-
sche) „Eitelkeit" derartiger Formeln abgehoben wird. In der Moralistik ist Eitel-
keit ein beliebtes Thema. La Rochefoucauld und in seinem Gefolge N.s Freund
Paul Ree hatten es häufig traktiert. Ree widmete dem Thema der Eitelkeit einen
ganzen Paragraphen seines Werks Der Ursprung der moralischen Empfindungen
(1877) (§ 5: Der Ursprung der Eitelkeit). N. schloss sich dem in mehreren Texten
der Morgenröthe an, vor allem in M 159 und M 160 (hierzu vgl. die Kommen-
tare).
Die zitatartige Berufung auf Alexander Pope am Anfang: „Ich liebe die
Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden,
auch ,die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen'" geht
zurück auf die in N.s persönlicher Bibliothek vorhandene deutsche Überset-
zung von Byrons Schriften durch Ernst Ortlepp (Byron o. J., Bd. II, 192; vgl. die
bibliographische Angabe im Kommentar zu M 109). Lord Byron zitierte Pope in
seinem Brief an Murray vom 1. Mai 1814. Letztlich beruht der Passus auf einem
Brief Popes an Congreve vom 16. Januar 1714/15 (Pope 1871, Bd. 6, 411). Das
Zitat in Ortlepps deutscher Byron-Übersetzung lautet: „Die Lauterkeit und
Reinheit eines Herzens, sagt Pope, legt sich nicht deutlicher an den Tag, als
wenn man die Fehler desselben auf den ersten Blick wahrnehmen kann; wie
man von einem Strome, der die Unreinigkeiten auf seinem Boden sehen läßt,
zugleich die Durchsichtigkeit seines Wassers rühmt".
eure Tugenden!" (325, 20 f.) Dieselbe Anweisung hatte N. fast wortgleich bereits
in einem nachgelassenen Notat vom März 1875 festgehalten: „Gehet hin und
verbergt eure guten Werke und bekennt vor den Leuten die Sünden, die ihr
begangen. / Buddha" (MA 607; 3[1], KSA 8, 14). Das Buddha-Zitat stammt nicht,
wie immer wieder vermutet wird, aus den Indischen Sprüchen von Böthlingk,
sondern von F. Max Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissen-
schaft. Vier Vorlesungen im Jahre MDCCCLXX an der Royal Institution in London
gehalten / nebst zwei Essays „Über falsche Analogien" und „Über Philosophie
der Mythologie" (1874, BUB). Im Kontext lautet das Buddha-Zitat bei F. Max
Müller: „Ebenso [wie die legendenhaften Wunder, die Mohammed angedichtet
wurden] fliessen die Buddhistischen Legenden von erbärmlichen Wundern
über, welche Buddha und seine Jünger vollbracht haben sollen, Wunder, die
an Wunderlichkeit die Wunder aller andern Religionen weit überbieten, wäh-
rend in ihren eigenen kanonischen Schriften die Worte Buddha's aufbewahrt
sind, mit denen er seinen Jüngern wehrt, Wunder zu thun, selbst wenn das
Volk nach Zeichen und Wundern verlange, damit es glauben könne. Und was
war das Wunder, welches Buddha von seinen Jüngern forderte? ,Gehet hin',
sagt er, ,und verbergt eure guten Werke, und bekennt vor den Leuten eure
Sünden, die ihr begangen'. Das ist das wahre Wunder" (Müller 1874, 25 f.). Die
Pointe von M 558 ist wiederum moralkritisch, indem zweimal auf die (morali-
sche) „Eitelkeit" derartiger Formeln abgehoben wird. In der Moralistik ist Eitel-
keit ein beliebtes Thema. La Rochefoucauld und in seinem Gefolge N.s Freund
Paul Ree hatten es häufig traktiert. Ree widmete dem Thema der Eitelkeit einen
ganzen Paragraphen seines Werks Der Ursprung der moralischen Empfindungen
(1877) (§ 5: Der Ursprung der Eitelkeit). N. schloss sich dem in mehreren Texten
der Morgenröthe an, vor allem in M 159 und M 160 (hierzu vgl. die Kommen-
tare).
Die zitatartige Berufung auf Alexander Pope am Anfang: „Ich liebe die
Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden,
auch ,die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen'" geht
zurück auf die in N.s persönlicher Bibliothek vorhandene deutsche Überset-
zung von Byrons Schriften durch Ernst Ortlepp (Byron o. J., Bd. II, 192; vgl. die
bibliographische Angabe im Kommentar zu M 109). Lord Byron zitierte Pope in
seinem Brief an Murray vom 1. Mai 1814. Letztlich beruht der Passus auf einem
Brief Popes an Congreve vom 16. Januar 1714/15 (Pope 1871, Bd. 6, 411). Das
Zitat in Ortlepps deutscher Byron-Übersetzung lautet: „Die Lauterkeit und
Reinheit eines Herzens, sagt Pope, legt sich nicht deutlicher an den Tag, als
wenn man die Fehler desselben auf den ersten Blick wahrnehmen kann; wie
man von einem Strome, der die Unreinigkeiten auf seinem Boden sehen läßt,
zugleich die Durchsichtigkeit seines Wassers rühmt".