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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0458
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 325-326 443

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325, 24 „Nicht zu sehr!"] Mit dieser Losung übersetzt N. die griechische
Spruchweisheit μηδέν αγαν. Sie wurde einem der Sieben Weisen zugeschrie-
ben, u. a. dem Staatsmann Solon, dem Urheber wichtiger Gesetze im Athen des
7. Jahrhunderts v. Chr. Die verschiedenen Zuschreibungen und deren Quellen
für die Sprüche der Sieben Weisen bietet das Werk Die Fragmente der Vorsokra-
tiker (Diels/Kranz, 11. Auflage 1964, Bd. 1, 61-66 - nur griechisch); griechisch,
lateinisch und in deutscher Übersetzung die Sammlung von Bruno Snell: Leben
und Meinungen der Sieben Weisen (dort zum μηδέν αγαν: Snell 1971, 8 ff.). Der
Spruch wurde in engen Zusammenhang mit dem Apollon-Tempel in Delphi ge-
bracht, dem berühmtesten Orakel-Ort der Griechen. Immer wieder wurde er mit
anderen Weisheitssprüchen korreliert, die sich ebenfalls auf das delphische
Gebot des Maßhaltens bezogen, so mit dem von N. ebenfalls in einem Text der
Morgenröthe (M 48) und bereits in der Geburt der Tragödie zitierten Spruch:
„Erkenne dich selbst" - γνώθι σαυτόν, der dazu mahnt, sich nicht zu überhe-
ben und Maß zu halten. Besonders kommt dies in einem Spruch zum Aus-
druck, den man dem Kleobulos von Lindos (Rhodos), einem anderen der Sie-
ben Weisen, zuschrieb: „Maß ist das Beste" - μέτρον αριστον.
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326, 8 Was uns frei steht.] Die Kontrastierung der „frei" stehenden Hand-
lungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Glauben „großer Philosophen",
die auf die Unfreiheit aufgrund „der Unveränderlichkeit des Charakters" (326,
25-27) abheben, zielt vor allem auf Schopenhauer. Dieser hatte in seiner Preis-
schrift über die Freiheit des Willens, die er unter das von Malebranche entlehnte
Motto stellte: „La liberte est un mystere" („die Freiheit ist ein Mysterium"),
eine intensive, auch historisch exemplifizierende Darstellung des „Charakters"
gegeben und gegen die undifferenzierte Behauptung eines freien Willens die
Leitthese formuliert: „Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt
der selbe, das ganze Leben hindurch. Unter der veränderlichen Hülle seiner
Jahre, seiner Verhältnisse, selbst seiner Kenntnisse und Ansichten, steckt, wie
ein Krebs in seiner Schaale, der identische und eigentliche Mensch, ganz un-
veränderlich und immer der selbe" (Schopenhauer 1874, Bd. 4, 50). Sowohl in
seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung wie in seinen Parerga und
Paralipomena hatte Schopenhauer immer wieder zwischen einer unaufhebba-
ren, „angeborenen" Wesensart, die den ganz der Notwendigkeit unterworfenen
„empirischen" Charakter ergibt, und einem „intelligiblen" Charakter unter-
schieden, der allein Produkt einer freien Tat sei.
 
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