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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0460
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 326 445

im Griechischen die Dehnstufe zu ethos, Gewöhnung - Aristoteles verfährt also
etymologisierend. Die Ausformung des Charakters geschieht ihm zufolge durch
Gewöhnung. Schon in Platons Politeia beruht der ,moralisch' gute Charakter
auf Gewöhnung, wobei Platon besonders die erzieherische Bedeutung der
Nachahmung (μίμησις) betont. Es geht um „Nachahmung von Vorbildhaftem,
die man in der Kindheit beginnt und dann konsequent fortsetzt, sie wird
schließlich zur festen Gewohnheit und [zweiten] Natur" (α'ι μιμήσεις, έάν έκ
νέων πόρρω διατελέσωσιν, εις έθη τε καί φύσιν καθίστανται; Politeia 395 d 1-
2). Später vertritt u. a. Pascal diese Position (vgl. NK Μ 111), bevor sie dann
N. schon im ersten Buch der Morgenröthe aufnimmt (vgl. NK Μ 9), aber mit
entgegengesetzter, kritisch-subversiver Intention: Während Platon und Aristo-
teles die zum moralisch ,Guten' führende Wirkung der „Gewöhnung" hervorhe-
ben, insistiert N. auf dem bloß Konventionellen der „Gewohnheit", des „Her-
kommens", um das Unauthentische der Moral und der Begriffe ,Gut' und ,Böse'
als Ergebnis von Wertungen darzustellen und damit die ,Moral' prinzipiell als
bloßes Vorurteil zu untergraben.
Zwar greift N. in M 560 nochmals das Thema des Vorurteils auf, indem er
rhetorisch fragt: „Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess
Vorurtheil gedrückt, mit der Lehre von der Unveränderlichkeit des Charak-
ters?" (326, 25-27), aber dies entspricht der Platonischen und Aristotelischen
Grundposition allenfalls, wenn man von einem nicht a priori vorhandenen
Charakter, sondern von einem im Prozess der Charakterbildung irgendwann
definitiv verfestigten und erst dadurch unveränderlichen Charakter ausgeht.
Letzteres charakterisiert N. als den irrigen Glauben der Menschen „an vollen-
dete ausgewachsene Thatsachen" (326, 24). In einem nachgelassenen
Notat vom Herbst 1880 behauptet N. die Uneigentlichkeit des „Charakters":
„Die Menschen mit der Maske, die sogenannten Charaktere, die sich nicht
schämen, ihre Maske zu zeigen" (6[407], KSA 9, 302). Primär denkt N. an He-
raklit und insbesondere an Schopenhauers Interpretation des in die Sphäre des
„Intelligiblen" gehenden ,Charakters'. Allerdings erinnert an Schopenhauer,
trotz der Kritik an dessen Theoremen, die gleich am Beginn von M 560 vollzo-
gene physiologische Reduktion auf „Triebe" (326, 9), die als Spielraum der Frei-
heit höchstens einen sekundären, ,gärtnerischen' Umgang mit der Naturgege-
benheit der Triebe erlaube. Daher nimmt die Metapher des „Gärtners" so viel
Raum ein. Wie so oft bei N. verlebendigt die metaphorische Phantasie die Ge-
dankenführung, aber sie verselbständigt sich auch.
561
326, 29 Sein Glück auch leuchten lassen.] Auf der primären Bedeu-
tungsebene richtet sich die in der Überschrift ausgegebene Losung gegen Scho-
 
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