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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0470
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 331 455

bloß pragmatisch auf Nützlichkeit Bedachten] sein! Wir wollen bereit sein! Wir
wollen Todfeinde derer von den Unseren sein, welche zur Verlogenheit Zu-
flucht nehmen und Reaktion wollen! - Es ist wahr, wir stammen von Fürsten
und Priestern ab: aber eben deshalb halten wir unsere Ahnen hoch, weil sie
sich selber überwunden haben" (201, 2-29). Der zuletzt zitierte Satz
meint mit den „Ahnen" die Aufklärer früherer Zeit, etwa Voltaire, dessen An-
denken N. Menschliches, Allzumenschliches gewidmet hatte, sowie die zahlrei-
chen aufklärerischen Philosophen, die sich zuerst von ihrem religiösen Erbe -
deshalb ist von Priestern die Rede - befreien mussten und sich damit „selber
überwunden haben". In Μ 575 erscheinen sie als „unsere grossen Lehrmeister
und Vorläufer" (331, 12 f.).
In diesem Kontext besagt der besonders hervorgehobene Satz: „Andere
Vögel werden weiter fliegen!", dass der Prozess der Aufklärung unauf-
haltsam weitergeht, in eine nicht absehbare Zukunft hinein. Damit knüpft N.
an eine programmatische Vorstellung an, die er schon in M 197 formuliert:
„Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen" (172, 25 f.) - und schon in
diesem Text verwendet er pointierend die Metapher des Fliegens. Von den
„Geistern" der wahren Aufklärung, die sich über romantische Verformungen
und Überlagerungen emporschwingen, heißt es: sie „haben eines Tages eine
andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ih-
ren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien
eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren" (172, 21-25).
Dass diese Aufklärung trotz der immer wieder in den Texten der Morgenröthe
hervorgehobenen „Leidenschaft der Erkenntnis" keine rationalistisch verengte
ist - das geht schon daraus hervor, dass sie eine „Leidenschaft" ist -, bringt
N. in diesem früheren Text noch besonders zum Ausdruck, indem er auch das
„Gefühl" mit der Erkenntnis verbindet. Er bekennt sich zu der „neu erregte[n]
Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss" (172, 18 f.).
JGB 193 gilt der aus dem Unbewussten der Traumsphäre entspringenden
Phantasie des Fliegens. In JGB 41 reflektiert N. das Problem einer vollständigen
Unabhängigkeit, die selbst noch über den Wunsch des Fliegens hinausreicht:
„Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit den
kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an seiner
eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des
Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr unter sich zu
sehn: - die Gefahr des Fliegenden" (KSA 5, 59, 10-16). Im Kapitel ,Vor Sonnen-
Aufgang' ruft Zarathustra zum Himmel hinauf: „Und all mein Wandern und
Bergsteigen: eine Noth war's nur und ein Behelf des Unbeholfenen: - fliegen
allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!" (Zarathustra III, KSA
4, 208, 6-8).
 
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