Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0484
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 469

„Nietzsche war vor allem ein großer Kritiker und Kultur-Philosoph, ein aus der
Schule Schopenhauers kommender Prosaist und Essayist obersten Ranges [...].
Ein Dichter mag weniger sein als solch ein Kritiker, aber zu diesem Weniger
reichte es nicht, oder doch nur in einzelnen lyrischen Augenblicken, nicht für
ein ausgedehntes Werk von kreativer Ursprünglichkeit." (Mann 1997, 63 f.)
Mann wendet hier die implizite Einschränkung der philosophischen Bedeu-
tung N.s, die sich oft mit dem Hinweis auf seine literarische Begabung verband
(vgl. kritisch dazu Heidegger 1998, 3), ins Gegenteil, indem er sie nur ironisch
aufgreift („Ein Dichter mag weniger sein ...") und umgekehrt behauptet, N. sei
kein ,echter' Dichter gewesen, weil er dafür zu sehr Denker war.
N. selbst bekennt sich hingegen schon früh zum ,gemischten' Ideal des
„Philosophen-Künstlers", dessen Philosophie gleichfalls „ein Kunst-
werk [...] mit ästhetischem Werthe" sein soll (NL 1872, 19[39], KSA 7, 431, 12-
14), und versteht sich auch später noch als „ein verwegener Dichter-Philosoph"
(NL 1886, 6[22], KSA 12, 240, 13 f.). Als ein solcher ist er auch gleich zu Beginn
seiner intensiven Rezeption um 1900 wahrgenommen worden. So versieht be-
reits Joseph Diner seinen 1890 in der ersten Nummer von Otto Brahms Freier
Bühne für modernes Leben veröffentlichten Essay zu N. mit dem programmati-
schen Titel Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph (vgl. auch Oppeln-Broni-
kowski 1899 u. Knodt 1903). Dass N. als Philosoph zugleich auch Lyriker war,
begünstigte zweifellos eine derartige Rezeption; N.s Ruhm oder - je nachdem -
Ruch als „Dichterphilosoph" geht aber darüber hinaus und betrifft allgemein
die literarische Qualität seiner oft rhetorisch durchkomponierten ,Aphoris-
men', die zudem häufig ästhetisch-poetologische Themen behandeln, sowie
insbesondere die lyrische Prosa der im biblischen Verkündigungston verfass-
ten ,Erzählung' Also sprach Zarathustra. Dabei sind diese Aspekte im Werk N.s
keineswegs klar getrennt. Er ist nicht Philosoph und nebenbei auch noch Dich-
ter, sondern beides zugleich.
Dieses Ineins von Philosophie und Dichtung zeigt sich nicht zuletzt daran,
dass N. - abgesehen von IM und den projektierten DD - Gedichte ausschließ-
lich im Kontext seiner ,philosophischen' Werke veröffentlicht oder für die Ver-
öffentlichung vorgesehen hat. Zu nennen sind hier das Epigramm Freunde, es
giebt keine Freunde! ... aus MA I 376 (KSA 2, 263, 31-34), der Zweizeiler Schick-
sal, ich folge dir! ... aus M 195 (KSA 3, 168, 10 f.), das „Vorspiel in deutschen
Reimen", welches unter dem Goethe entlehnten Titel Scherz, List und Rache
die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 einleitet (KSA 3, 353-
367), das ,Motto-Gedicht' Der du mit dem Flammenspeere ..., das dem Vierten
Buch von FW vorangestellt ist (KSA 3, 521, 3-10), sowie die Motto-Verse Ich
wohne in meinem eigenen Haus ... der Neuausgabe von 1887 (KSA 3, 343) und
die - zum Teil aus den IM hervorgegangenen - Lieder des Prinzen Vogelfrei
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften