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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0506
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Überblickskommentar 491

3.2 Hauptmotive
Gemäß der lockeren Anknüpfung an die Gattungstradition idyllisch-bukoli-
scher Dichtung, deren vorwiegende Themen Liebe, Gesang und heitere Gesel-
ligkeit, aber bisweilen auch - so bereits in den antiken Anfängen bei Theokrit
und Vergil - düstere Leidenschaft, Trauer und Tod sind, ziehen sich verwandte
Hauptmotive durch IM hindurch. Dies gilt ebenfalls für den ironischen Tonfall
der meisten Gedichte, den N. ebenfalls von Theokrit adaptiert. Nicht selten
kommen in IM parodistisch-satirische Verfahren zur Anwendung. Schiller, des-
sen Idyllen-Theorie N., wie dargelegt, genauer zur Kenntnis nahm, hob in sei-
ner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung eigens die Komple-
mentarität von Idylle und Satire hervor. Gerade auch das distanzierende Ele-
ment der Satire erlaubt N. die idyllische' Behandlung ernster, ja tragischer
Themen wie Liebesunglück und Tod, die in seinen Gedichten besonders domi-
nant hervortreten. Folglich bewahren die Texte trotzdem den Gesamtcharakter
der ,Heiterkeit', auf den N. seinen Verleger Schmeitzner hinwies, als er ihm die
Idyllen zum Druck anbot (vgl. KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 227, S. 193, Z. 3 f.). Der An-
sicht von Crescenzi 1997, 152, wonach „die acht Gedichte [...] keine besondere
thematische Kontinuität und innere Kohärenz aufweisen", ist entschieden zu
widersprechen: Aufgrund der sehr wohl vorhandenen Wiederholung und Vari-
ation spezifischer Motive (und Formen), durch die ein übergreifender konzepti-
oneller Zusammenhang entsteht, lässt sich die Gedichtsammlung mit Recht als
lyrischer Zyklus bezeichnen.
Ein erstes Leitmotiv, welches sowohl am Anfang wie auch am Ende von IM
vorkommt, so dass man in thematischer Hinsicht von einem ringkompositori-
schen Aufbau sprechen kann, bildet das Motiv des lyrischen Singens/Dichtens;
es verleiht der Gedichtsammlung eine poetologisch-selbstreflexive Dimension.
Dieses Motiv ist eng mit der Flug- und Vogelmetaphorik verknüpft und kontras-
tiv auf das Motiv der „Vernunft", des „Kopfes" bezogen. So lautet die dritte,
vorletzte Strophe des Eingangsgedichts Prinz Vogelfrei - bevor das lyrische Ich
in der letzten Strophe der Einsamkeit entsagt und die „schönen Vögelchen"
(336, 5) einlädt, seinen ,Gesängen' zu lauschen:
„Vernunft? - das ist ein bös Geschäfte:
Vernunft und Zunge stolpern viel!
Das Fliegen gab mir neue Kräfte
Und lehrt' mich schönere Geschäfte,
Gesang und Scherz und Liederspiel." (335, 17-21)
Ironisch wird das Dichten in analoger Weise auf ,Kopflosigkeit' zurückgeführt,
wenn sich im Schlussgedicht Vogel-Urtheil das lyrische Ich gegen Ende in der
 
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