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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0520
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Stellenkommentar Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 335 505

auf Μ 575 zurück. Auch dort wird das ziellose Streben der freigeistigen Wan-
dervögel' in eine unbestimmte Weite, in eine offene „Unendlichkeit" betont. N.
lässt den Text in eine Kaskade rhetorischer Fragen gipfeln: „Und wohin wollen
wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige
Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser
Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen
sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach
Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, - dass aber
unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder?
Oder? -" (Μ 575, KSA 3, 331, 23-31) Als Inspirationsquelle hierfür diente N.
der Schlussvers des Gedichtes L'infinito von Giacomo Leopardi, das er in der
Übersetzung von Paul Heyse kannte (vgl. NK M 575). In Prinz Vogelfrei über-
trägt er die daraus entlehnte Entgrenzungsvorstellung seinerseits in das Gebiet
der Lyrik.
335, 10 Vergessen Furcht und Lob und Strafen] Statt „Vergessen Furcht und
Lob" erwog N. in einer Vorstufe noch „Und Ziel und Pfad und Lohn Furcht"
(KSA 14, 229). Die Änderung erscheint im Kontext des Gedichts und von N.s
Philosophie konsequent: Furcht, Lob und Strafe markieren den Bereich der
sozialen Konventionen und Sanktionen, den das lyrische Ich auf seinem ziello-
sen Flug ins Weite ebenfalls hinter sich lässt. Die furchtlose Unabhängigkeit
von „Lob und Strafen" korrespondiert der juristischen Bedeutung der „Vogel-
freiheit" des ,gesetzlosen' Freigeists, der in die Nähe des Verbrechers gerät.
Wiederholt setzt sich N. in den Schriften seiner ,mittleren' Schaffensperiode im
Zusammenhang seiner kritischen Hinterfragung der „moralischen Vorurteile"
(und im Zuge einer zeitgenössischen Strömung, in der auch sein Freund Paul
Ree stand) mit den Themen Verbrechen und Strafe auseinander. Schon 1878,
in MA I, stellt N. Belohnung und Strafe als gesellschaftliche Sanktionen vor
dem Hintergrund seiner Annahme der „Unverantwortlichkeit" in Frage, wenn
er dort in MA I 105 schreibt: „Wer vollständig die Lehre von der völligen Unver-
antwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und beloh-
nende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unter-
bringen: falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der,
welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt,
um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der,
welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln,
als er gehandelt hat." (MA I 105, KSA 2, 102, 6-15) Zu N.s Kritik an der „Strafe"
vgl. auch NK M 202.
335, 11 Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.] Nachdem zuvor, in Strophe 1, Vers 3
nur „Ein Vogel" genannt wurde, liegt die Betonung jetzt auf „jedem". Nicht
 
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