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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0521
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506 Idyllen aus Messina

zuletzt im Rückblick von der Schlussstrophe her, in der die „schönen Vögel-
chen" (336, 5) apostrophiert werden, lässt sich dabei ein erotischer Unterton
vernehmen. - In der in KSA 14, 229 mitgeteilten Vorstufe ließ N. auf diesen
Vers noch zwei weitere Verse folgen, die er später strich: „Und singe Lied um
Lied für mich, / Ein Vogel selber - sicherlich!" Dieses Verspaar wurde in der
Vorstufe bereits an früherer Stelle erwogen (vgl. NK 335, 6 f.), so dass das Ge-
dicht einen Refrain erhalten hätte.
335, 12 f. Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben! I Stäts Bein vor Bein macht]
Eine geringfügig von der Druckfassung abweichende Vorstufe lautet: „Dies
,Schritt für Schritt' - das ist kein Leben! / Dies ,Bein vor Bein' macht" (KSA 14,
229).
335, 14 f. Ich lass mich von den Winden heben, I Ich liebe es, mit Flügeln schwe-
ben] Die Vorstellung der mühelosen Erhebung und des Schwebens, die auch
das vorletzte Gedicht Vogel Albatross wieder aufnimmt (vgl. 341, 24-26), steht
im Kontrast zu dem mühevollen, aber unzureichenden Schlagen „mit den Flü-
gelchen" in der letzten Verszeile von Strophe 1 (335, 6). Das Gedicht stellt also
einen Prozess zunehmender Loslösung und Leichtigkeit dar.
335, 16 Und hinter jedem Vogel her.] Variierende Wiederaufnahme von V. 10:
„Jetzt flieg ich jedem Vogel nach." (335, 11) In der in KSA 14, 229 mitgeteilten
Vorstufe folgt hier die erneute Wiederholung des - in der Endfassung nicht
realisierten - Refrains: „Da sing ich Lied um Lied für mich, / Ein Vogel selber -
sicherlich!"
335, 17 f. Vernunft? - das ist ein bös Geschäfte: I Vernunft und Zunge stolpern
viel!] Statt „Vernunft" stand in einer Vorstufe noch „Sprechen" (KSA 14, 229);
die Änderung zu „Vernunft" ist signifikant: Der hier pejorativ verwendete
Vernunftbegriff meint die ratio, das rationale Denken; die aufklärerische Philo-
sophie des 18. Jahrhunderts - man denke nur an die epochalen kantischen
Schriften Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft („Kri-
tik" im Sinne von ,Grenzbestimmung') - hatte die Vernunft ins Zentrum von
Erkenntnistheorie und Ethik gerückt und den Menschen vor allem als ,Ver-
nunftwesen' verstanden. Der frühe N. kämpfte in der Geburt der Tragödie vom
Standpunkt des Irrational-Dionysischen aus gegen die Vernunftfixierung des
,sokratisch-alexandrinischen' Menschen. Auch wenn N. mit seinem ersten
Aphorismen-Werk Menschliches, Allzumenschliches gegen Ende der 1770er Jah-
re die metaphysisch-romantische Weltanschauung des Frühwerks aufgab und
eine Wende hin zur radikalaufklärerischen Kulturpsychologie und Vorurteils-
kritik vollzog, blieb ein gewisser Vorbehalt gegenüber der „Vernunft" doch be-
stehen. Einerseits betont der ,mittlere' N. zwar immer wieder das Vernunftprin-
 
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