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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0522
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Stellenkommentar Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 335 507

zip - in der Fröhlichen Wissenschaft bezeichnet er sich sogar als „Vernunft-
Durstigen" (FW 319, KSA 3, 551, 12) -, andererseits aber hegt er zugleich den
Argwohn, es könne sich bei der vorausgesetzten ,Vernünftigkeit' so mancher
Phänomene lediglich um ein Konstrukt handeln. Gleich im ersten Aphorismus
der Morgenröthe, der unter der Überschrift „Nachträgliche Vernünftig-
keit" steht, heißt es beispielsweise: „Alle Dinge, die lange leben, werden all-
mählich so mit Vernunft durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft
dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer
Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft?" (Μ 1, KSA 3, 19, 3-7) Die
„Vernunft" erscheint in dieser Perspektive als etwas bloß Sekundäres, Abgelei-
tetes, wohingegen „Unvernunft" und „Gefühl" das Primäre, Ursprüngliche re-
präsentieren. Insgesamt zeigt sich beim ,mittleren' N. also eine Ambivalenz
zwischen Vernunftorientierung und Vernunftskepsis.
Letztere prägt sich auf spezifische Weise auch in der zu kommentierenden
Stelle des vorliegenden Gedichts aus. Hier wird die Vernunft auf die Sprache
(„Zunge") bezogen und zu ihr in ein Spannungsverhältnis gesetzt: Das ,Stol-
pern' der „Zunge" des vernünftig Denkenden verweist auf das Unzureichende
der rationalen Rede. Mit „Vernunft" ist hier hauptsächlich die philosophische
Vernunft als Erkenntnisvermögen des Denkers gemeint. Das lyrische Ich - und
mit ihm N. - suspendiert sie zugunsten einer zeitweiligen Hinwendung zur
Poesie, bei der die „Zunge" nicht ,stolpert', sondern mit spielender Leichtigkeit
ihr „Geschäfte" ausführt. Vgl. auch den späteren „Versuch einer Selbstkritik"
zur Neu-Ausgabe von GT; dort heißt es: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue
Seele' - und nicht reden!" (KSA 1, 15, 9 f.)
335, 19 Das Fliegen gab mir neue Kräfte] Verändert aus: „Es giebt noch leibli-
chere Kräfte" (KSA 14, 229). Diese Betonung der ,Leiblichkeit' in der Vorstufe
korrespondiert der latent erotischen Rede von „jedem Vogel" (335, 11 u. 16) und
„schönen Vögelchen" (336, 5).
335, 21 Gesang und Scherz und Liederspiel.] Mit dieser Trias wird die poetologi-
sche Pointe des Gedichts eingeleitet und zugleich das zugrunde liegende Dich-
tungskonzept umrissen. Der metaphorische Ausdruck „Gesang" für lyrische
Dichtung bezieht sich in längst traditioneller Weise auf den antiken Ursprung
der Lyrik aus dem Gesang zu den Tönen der Lyra (woraus sich auch die Etymo-
logie ergibt) und bildet damit zugleich das tertium comparationis zwischen
dem (Sing-)Vogel- und dem Dichtungsmotiv. „Scherz" - in einer Vorstufe heißt
es noch „Tanz" (KSA 14, 229) - deutet zum einen allgemein auf die zumeist
heitere, ironische, bisweilen parodistisch-satirische Tonlage dieser Dichtung
hin, ruft zum anderen aber auch spezifischer die in der Tradition der Idyllik
und Bukolik stehende Anakreontik des 18. Jahrhunderts in Erinnerung, die ihre
 
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