Stellenkommentar Lied des Ziegenhirten, KSA 3, S. 337-338 517
Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von
Syrakusd.)
Dieses Gedicht knüpft innerhalb des Zyklus thematisch am engsten an die (an-
tike) Tradition der bukolischen Idyllik an. Das lyrische Ich in der Rolle eines
Ziegenhirten wartet nachts verabredungsgemäß auf seine Geliebte, die jedoch
nicht erscheint. Der unglückliche Ziegenhirte befürchtet ihre Untreue und
wünscht sich schließlich den Tod, als sie bei Tagesanbruch noch immer nicht
erschienen ist. Unter dem Titel Lied eines theokritischen Ziegenhirten hat N. den
Text in nahezu unveränderter Form in die Lieder des Prinzen Vogelfrei aufge-
nommen, die er der 1887 erschienenen Neuausgabe der Fröhlichen Wissen-
schaft als „Anhang" beifügte.
Mit der Freiheit doppelter Senkungen greift N. in diesem „weltschmerzli-
che[n] Liebesgedicht" (Meyer 1991, 419) auf eine kleine Vierzeiler-Form zurück,
bei der auf einen jambischen Dreiheber mit männlicher Kadenz ein weiblich
endender Zweiheber folgt, was einfach wiederholt und durch Kreuzreim ver-
bunden wird. Zur Gestaltung „bedauernde[r]" oder ,,[s]ehnsuchtsvoll[er]" Emp-
findungen kommt sie unter anderem bei Goethe und Geibel vor (Frank 1980,
88).
338, 21f. Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von Syra-
kusä.)] Die selbstreflexive Überschrift zeigt an, dass es sich abermals um ein
Rollengedicht handelt: Das lyrische Ich ist ein Ziegenhirte, der ein Lied singt;
in der Logik der Fiktion ist dieses Lied identisch mit dem folgenden Text. Der
eingeklammerte Untertitel enthält eine Widmung an den Begründer der Idyl-
lentradition Theokrit (vgl. hierzu ÜK, S. 483 f.) und gibt damit einen poetologi-
schen Fingerzeig, wie das Gedicht zu verstehen ist, nämlich als bukolische
Idylle im theokritischen Sinn. Dass Theokrit als „mein [...] Nachbar" angespro-
chen wird, deutet darauf hin, dass der Handlungsort (und der Entstehungsort?)
Sizilien ist. Dabei entspricht der syrakusische Nachbar-Dichter keineswegs
dem verharmlosenden Bild des „Blumen-singenden / Honig-lallenden /
Freundlich winkenden / Theokrit" (Goethe 1853, 58), wie N. es aus Goethes
Sturm-und-Drang-Ode Wandrers Sturmlied (wohl 1772) kannte. Stattdessen re-
kurriert N. auf die Darstellungen des Liebesleids in Theokrits Idyllen. Als Prä-
text für das vorliegende Gedicht kommt insbesondere Theokrits 3. Idylle Das
Ständchen (griechischer Originaltitel: Κώμος) in Betracht. Ein Ziegenhirte klagt
hier singend seinen Schmerz darüber, dass ihn seine Geliebte Amaryllis ver-
schmäht, und beschließt - genau wie N.s Ziegenhirte - sein Lied mit dem
Wunsch zu sterben.
Dagegen, dass es sich um eine kritisch gemeinte „parody of Theocritus"
(Gilman 1974, 293) handelt, spricht allerdings die Tatsache, dass bereits Theo-
Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von
Syrakusd.)
Dieses Gedicht knüpft innerhalb des Zyklus thematisch am engsten an die (an-
tike) Tradition der bukolischen Idyllik an. Das lyrische Ich in der Rolle eines
Ziegenhirten wartet nachts verabredungsgemäß auf seine Geliebte, die jedoch
nicht erscheint. Der unglückliche Ziegenhirte befürchtet ihre Untreue und
wünscht sich schließlich den Tod, als sie bei Tagesanbruch noch immer nicht
erschienen ist. Unter dem Titel Lied eines theokritischen Ziegenhirten hat N. den
Text in nahezu unveränderter Form in die Lieder des Prinzen Vogelfrei aufge-
nommen, die er der 1887 erschienenen Neuausgabe der Fröhlichen Wissen-
schaft als „Anhang" beifügte.
Mit der Freiheit doppelter Senkungen greift N. in diesem „weltschmerzli-
che[n] Liebesgedicht" (Meyer 1991, 419) auf eine kleine Vierzeiler-Form zurück,
bei der auf einen jambischen Dreiheber mit männlicher Kadenz ein weiblich
endender Zweiheber folgt, was einfach wiederholt und durch Kreuzreim ver-
bunden wird. Zur Gestaltung „bedauernde[r]" oder ,,[s]ehnsuchtsvoll[er]" Emp-
findungen kommt sie unter anderem bei Goethe und Geibel vor (Frank 1980,
88).
338, 21f. Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von Syra-
kusä.)] Die selbstreflexive Überschrift zeigt an, dass es sich abermals um ein
Rollengedicht handelt: Das lyrische Ich ist ein Ziegenhirte, der ein Lied singt;
in der Logik der Fiktion ist dieses Lied identisch mit dem folgenden Text. Der
eingeklammerte Untertitel enthält eine Widmung an den Begründer der Idyl-
lentradition Theokrit (vgl. hierzu ÜK, S. 483 f.) und gibt damit einen poetologi-
schen Fingerzeig, wie das Gedicht zu verstehen ist, nämlich als bukolische
Idylle im theokritischen Sinn. Dass Theokrit als „mein [...] Nachbar" angespro-
chen wird, deutet darauf hin, dass der Handlungsort (und der Entstehungsort?)
Sizilien ist. Dabei entspricht der syrakusische Nachbar-Dichter keineswegs
dem verharmlosenden Bild des „Blumen-singenden / Honig-lallenden /
Freundlich winkenden / Theokrit" (Goethe 1853, 58), wie N. es aus Goethes
Sturm-und-Drang-Ode Wandrers Sturmlied (wohl 1772) kannte. Stattdessen re-
kurriert N. auf die Darstellungen des Liebesleids in Theokrits Idyllen. Als Prä-
text für das vorliegende Gedicht kommt insbesondere Theokrits 3. Idylle Das
Ständchen (griechischer Originaltitel: Κώμος) in Betracht. Ein Ziegenhirte klagt
hier singend seinen Schmerz darüber, dass ihn seine Geliebte Amaryllis ver-
schmäht, und beschließt - genau wie N.s Ziegenhirte - sein Lied mit dem
Wunsch zu sterben.
Dagegen, dass es sich um eine kritisch gemeinte „parody of Theocritus"
(Gilman 1974, 293) handelt, spricht allerdings die Tatsache, dass bereits Theo-