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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0536
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Stellenkommentar Die kleine Hexe, KSA 3, S. 338-339 521

ebenfalls wegen verschmähter Liebe den Tod wünscht. Abgesehen davon erge-
ben sich wörtliche und metrische Übereinstimmungen mit den Schlussversen
von Mörikes Gedicht Das verlassene Mägdelein (1829): „So kommt der Tag he-
ran - / 0 ging' er wieder!" (Mörike 1954, 1, 69) Ausführlicher Vergleich in
Grimm 1985, 225 f.
Die kleine Hexe.
Das Gedicht, das später in geringfügig veränderter Form unter dem Titel Die
fromme Beppa in die Lieder des Prinzen Vogelfrei integriert wurde, nimmt sati-
risch die Heuchelei der (katholischen) Kirche in eroticis aufs Korn. Aus der
Rollenperspektive eines hübschen Mädchens, das sich auf Liebeshändel mit
einem jungen Geistlichen einlässt, werden insbesondere die Frömmigkeit der
Gläubigen und die kirchliche Praxis der Sündenvergebung als verlogene Kon-
ventionen vorgeführt. Von N.s späterem „Fluch auf das Christentum" zeigt sich
dabei allerdings noch kaum eine Spur. Entfernt davon, eine radikale Kirchen-
kritik zu entfalten, macht sich das Gedicht lediglich auf spielerische Weise
über den Kontrast zwischen Anspruch und Realität, Schein und Sein der christ-
lichen/katholischen (Sexual-)Moral lustig. Damit entspricht der Text Schillers
Definition der Satire in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische
Dichtung, wonach diese „den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale"
gestaltet (Schiller 1838, 204) - bei N. geschieht dies freilich so, dass er das
zugrunde liegende Ideal (nämlich das der Frömmigkeit) selbst verspottet.
N. wählt hierfür nicht von ungefähr die Form der doppelten Kreuzreimstro-
phe aus jambischen Dreihebern mit weiblich/männlich wechselnden Kaden-
zen: den ,,[h]äufigsten Achtzeiler der deutschen Dichtung", der nicht nur
„durch Volkslieder" geläufig, sondern davon ausgehend auch „eine altvertrau-
te Kirchenliedstrophe" war (Frank 1980, 573). Es handelt sich mithin um eine
Formparodie.
339, 1 Die l<leine Hexe.] Der ironische Titel spielt auf den frühneuzeitli-
chen Hexenglauben an, der im 16. und 17. Jahrhundert zu europaweiten Hexen-
verfolgungen führte, denen hunderttausende Frauen zum Opfer fielen. Mit dem
historischen Phänomen der Hexenverfolgung setzt sich N. an verschiedenen
Stellen seines philosophischen Werks auseinander, so etwa in der ungefähr
zeitgleich mit IM entstandenen Fröhlichen Wissenschaft. Mit Bezug auf die
abergläubische Vorstellung, Hexen stünden mit dem Teufel im Bunde und sei-
en insofern schuldig, sucht er hier den Begriff der Schuld überhaupt als Aber-
glauben zu entlarven: „Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und
sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die
 
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