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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0539
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524 Idyllen aus Messina

339, 14 f. Ich liebe nicht die Greise, / Er liebt die Alten nicht] Im Vergleich zu
dieser chiastischen Formulierung wirkt folgende Vorstufe weniger pointiert:
„Er wundert sich von Herzen / Er liebt mein jung Gesicht!" (KSA 14, 230)
339, 16 f. Wie wunderlich und weise I Hat Gott dies eingericht!] Hier klingt der
Gedanke der Weltenlenkung (gubernatio rerum) durch einen weisen Gott an,
wie er insbesondere für den sog. teleologischen Gottesbeweis (etwa bei Thomas
von Aquin) eine wichtige Rolle spielt. Doch während dieser Gottesbeweis von
der Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit der gesamten Weltordnung ausgeht,
die durch das Wirken einer göttlichen Intelligenz als causa finalis bestimmt
sei, konstatiert die „kleine Hexe" die weise Einrichtung der Welt durch Gott
lediglich angesichts der banalen Tatsache, dass sie „nicht die Greise" und ihr
Mönch „die Alten nicht" liebt. Die Denkfigur der gubernatio rerum wird da-
durch parodistisch subvertiert.
339, 18 f. Die Kirche weiss zu leben, I Sie prüft Herz und Gesicht.] Die biblische
Vorstellung von Gott als „Herzenskündiger" (Apostelgeschichte 15, 8), „der der
Herzen kündig ist, die Herzen, d. i. verborgensten Gedanken und Empfindun-
gen, kennet" (Adelung 1811, 2, 1149 f.), wird hier nicht nur auf die Institution
der Kirche übertragen, sondern zugleich durch die ,Gesichtsprüfung' ad absur-
dum geführt: Nicht auf das Innere, die Seele komme es an, sondern auf das
Äußere, das hübsche „Leibchen". Dadurch erhält auch die Rede vom „Herzen"
einen anderen, nämlich auf die - irdische - Liebe bezogenen Sinn. ,Irdisch'
erscheint die Kirche schon durch die vorangehende Feststellung, sie wisse „zu
leben"; damit erscheint sie als eine durch und durch weltlich ausgerichtete
Institution mit vergnügungssüchtigen Repräsentanten.
339, 20-25 Stäts will sie mir vergeben [...] I Man lispelt mit dem Mündchen, I
Man knixt und geht hinaus I Und mit dem neuen Sündchen I Löscht man das alte
aus.] Diese Verse nehmen erneut die schon in der ersten Strophe thematisierte
Vergebung der Sünden' auf, nun aber bezogen auf die kirchliche/katholische
Beicht- und Bußpraxis, die als ein völlig oberflächliches, spielerisches Ritual
entlarvt wird: Die Buße beschränkt sich auf das ,Lispeln' der Beichte und das
,Knicksen' beim Verlassen des Gotteshauses; nicht durch Reue, sondern durch
neue „Sündchen" werden die alten ausgelöscht. Schon dass in der Diminutiv-
form von „Sündchen" die Rede ist, zeigt, dass diese nicht ernstgenommen wer-
den.
339, 26-29 Gelobt sei Gott auf Erden, I Der [...] / [...] derlei Herzbeschwerden I
Sich selber gern vergiebt!] Säkularisierende Umkehrung des auf den Lobpreis
Gottes durch die Engel in Lk 2, 14 zurückgehenden liturgischen Hymnus Gloria
in excelsis deo (Ehre sei Gott in der Höhe). Der „Gott auf Erden" weist zum einen
 
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