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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0540
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Stellenkommentar Das nächtliche Geheimniss, KSA 3, S. 339-340 525

auf die Christus-Anspielung in V. 3 zurück: „Gott liebt die Weibchen", lässt sich
andererseits aber auch auf den liebestollen Mönch als ,Stellvertreter Gottes auf
Erden' beziehen, der sich die Absolution für seine erotischen Eskapaden selbst
erteilt.
340, 2 f. Als altes Wackelweibchen I Mag mich der Teufel frein!] In einer Vorstu-
fe noch aktivisch formuliert: „Will ich den Teufel frein!" (KSA 14, 230) Anspie-
lung auf die abergläubische Vorstellung, Hexen stünden auch sexuell mit dem
Teufel in Verbindung. Die sog. Teufelsbuhlschaft, worunter die Eheschließung
und der Geschlechtsverkehr mit dem Teufel verstanden wurden, bildete oft ei-
nen Anklagepunkt in frühneuzeitlichen Hexenprozessen.
Das nächtliche Geheimniss.
Dieser Text, der später - mit kleineren Änderungen in der Interpunktion -
unter dem neuen Titel Der geheimnissvolle Nachen ebenfalls in die Lieder des
Prinzen Vogelfrei aufgenommen wurde, schlägt nach den vorangehenden ironi-
schen bzw. parodistisch-satirischen Gedichten nunmehr einen pathetisch-me-
lancholischen Ton an, der auch die folgenden beiden Texte des Zyklus be-
stimmt, bevor erst das abschließende Gedicht wieder den Duktus der ,scherz-
haften Lieder' aufnimmt. Zu Recht wurde daher von einer „Anti-Idylle" bzw.
„Gegen-Idylle" gesprochen (Meyer 1991, 420). Der „Heroism als Zeichen der
Freiheit" (NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5), wie ihn der ,mittlere' N. als konstitu-
tiv für die „heroische[ ] Idylle" versteht (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 122, S. 100, Z.
16 f.), lässt nun auch seine spezifische Gefährdung erkennen: Das Gefühl der
Freiheit und Grenzenlosigkeit kann jäh umschlagen in die depressiv gestimmte
Erfahrung abgründiger Leere, wie das Gedicht auf symbolisch-enigmatische
Weise zu verstehen gibt, will man es nicht auf die lyrisch verrätselte Gestaltung
einer homosexuellen „Beischlaf'-Phantasie in der Nachfolge August von Pla-
tens festlegen (so Schulte 1995, 77; ähnlich bereits Köhler 1989, 289 f.). Im Zen-
trum der Darstellung steht das (titelgebende) nächtliche, durch die Einnahme
von Opium bewirkte wachtraumartige Entgleiten des lyrischen Ichs in eine lee-
re Unendlichkeit, bevor es endlich in einen tiefen Schlaf versinkt, der am Mor-
gen darauf als „ach, so gut" (340, 28) bezeichnet wird.
Mit der sechszeiligen Strophenform dieses Gedichts variiert N. eine „alte
Hymnenstrophe, [...] worin in verlängertem Kreuzreim gleichmäßig trochäische
Vierheber mit weiblicher und mit männlicher Kadenz alternieren" (Frank 1980,
471): In N.s Gedicht wechseln die Kadenzen umgekehrt. Die „monotone Ein-
dringlichkeit, die über die Strophe hinausdringt" (Frank 1980, 471), ergibt sich
durch die gleichförmige Wiederholung von nur zwei Reimen pro Strophe aller-
 
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