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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0542
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Stellenkommentar Das nächtliche Geheimniss, KSA 3, S. 340 527

ode seit Menschliches, Allzumenschliches beginnt und sich im Spätwerk noch
radikalisiert, steht N. dem Konzept des Gewissens kritisch gegenüber. Der als
,Outlaw' in die Nähe des ,vogelfreien' Verbrechers geratende „freie Geist" leidet
nicht etwa unter einem ,schlechten Gewissen', sondern entlarvt das Gewissen
generell als eines der „moralischen Vorurtheile" (von denen im Untertitel der
Morgenröthe die Rede ist). So fordert N. in der Morgenröthe mit Blick auf dieje-
nigen, welche „bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte ver-
schrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens,
verderbt und verderbend, lebten" (Μ 164, KSA 3, 147, 4-7): „Die Abweichenden,
welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr
geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Mo-
ral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche
des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere
Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, - diese allge-
meinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt
und gefördert werden!" (Μ 164, KSA 3, 147, 14-22; hierzu und zum zeitgenössi-
schen Kontext der Gewissensproblematik vgl. ÜK M, S. 12 f). An die Stelle des
moralischen Gewissens setzt der ,freie Geist' N. das intellektuelle Gewissen (vgl.
FW 2, KSA 3, 373 f.). Mit seiner Kritik des moralischen Gewissens knüpft er an
die Schrift Die Entstehung des Gewissens seines Freundes Paul Ree an, die zwar
erst 1885 erschien, ihm aber schon 1879/80 in der Grundkonzeption bekannt
war.
340, 14 f. Mann und Kahn auf warmem Sande, / Schläfrig beide, Hirt und Schaf]
Mit dieser Gleichsetzung von „Mann und Kahn" mit „Hirt und Schaf" knüpft
N. auch in diesem Gedicht - wenngleich recht eigenwillig - an die bukolische
Tradition an, auf die sich die IM schon durch ihren Titel und stellenweise auch
thematisch beziehen. Darüber hinaus ergeben sich hieraus im Rahmen des vor-
liegenden Gedichts auch mythologische Assoziationen, die noch weiter rei-
chen. So erinnert der symbolisch als Hirt identifizierte Mann am nächtlichen
Strand überdies an den griechischen Gott Hermes, der als Hermes Kriophoros
mit einem Schaf auf der Schulter dargestellt wurde. Hermes ist auch der Vater
von Daphnis, jenem sizilianischen Hirten, der von Pan das Flötenspiel gelernt
hat und dessen Name und Liebeskummer in der bukolischen Dichtung von der
Antike bis ins 18. Jahrhundert immer wieder auftaucht. Zugleich galt Hermes,
der mit seinem Heroldsstab einschlafen und träumen lassen kann, neben Hyp-
nos und Morpheus (von dem sich der Name des Opiats ,Morphium' herleitet)
als Gottheit des Schlafes und der Träume. Nicht zuletzt fungierte der Gott als
Hermes Psychopompos oder als Hermes Psychagogos auch als der Geleiter der
Seelen in die Unterwelt - eine Aufgabe, die sonst dem Fährmann Charon zu-
kommt, der die Verstorbenen mit seinem Kahn über den Acheron in das Reich
 
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