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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0545
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530 Idyllen aus Messina

det sich der lyrische Sprecher vor dem Grab einer jungen Frau, deren bildhaue-
rische Darstellung als Grabskulptur ihn zutiefst ergreift. Er apostrophiert die
Frühverstorbene und spürt imaginativ ihrem traurigen Schicksal nach. Die lyri-
sche Reflexion auf die Ursache ihres frühen Todes führt zu der Vermutung,
dass sie vor verschwiegener Liebessehnsucht starb. Implizit wird die Frömmig-
keit des Mädchens für dieses Verschweigen und damit auch für ihr Sterben
verantwortlich gemacht. Am Ende des Gedichts scheint es dann, als stünden
dem Grabbildnis Tränen in den Augen; der Akt einfühlender Zuwendung des
sprechenden Ichs führt so gleichsam zu einer Beseelung des Denkmals wie im
Pygmalion-Mythos.
341, 1 „Pia, caritatevole, amorosissima".] Der zitathaft in Anfüh-
rungszeichen gestellte italienische Titel des Gedichts gibt eine Inschrift wieder,
die N. wahrscheinlich auf einem Grabstein gelesen hat. Die Worte charakteri-
sieren eine Verstorbene. „Pia" und „caritatevole" übersetzt N. selbst im Gedicht
mit „fromm" und „mild" (341, 9) - die religiöse Konnotation ist eindeutig. Das
dagegen in den erotischen Bereich weisende „amorosissima" lässt er jedoch
unübersetzt, um das Wort jeweils am Ende der beiden Strophen als Apostrophe
an das lyrische ,Du' zu wiederholen. Der substantivische Superlativ „amorosis-
sima" lässt sich sowohl mit „Geliebteste" als auch mit „Liebendste", „am meis-
ten Liebende" übersetzen (vgl. dagegen die ungenaue Übersetzung „liebevoll"
bei Buddensieg 2002, 59). Diese Doppelbedeutung, der zufolge die so Angere-
dete als Objekt, aber auch als Subjekt intensivster Liebe gemeint sein kann,
reflektiert das Gedicht selbst. In der ersten Strophe erscheint die Verstorbene
als „Liebling weit und nah" (341, 8), in der zweiten Strophe heißt es dann:
„Und liebtest du, wer hätte / Dich nicht genug geliebt?" (341, 13 f.) Wohl um
diese Doppeldeutigkeit zu wahren, übersetzt N. das Wort nicht. Um dieses Wort
kreist auch ein Gedicht aus dem Nachlass des Jahres 1884, das hinsichtlich
der Thematik und der Stimmung eng mit dem hier zu kommentierenden Text
verwandt ist (KGW VII/4.2, 28[65], 248, präsentiert sogar eine entsprechende
Vorstufe mit dem Titel „Amorosissima"):
„Dich lieb' ich, Gräbergrotte!
Dich, Marmor-Lügnerei!
Ihr macht zum freisten Spotte
Mir stets die Seele frei.
Nur heute steh' ich, weine,
Lass' meinen Thränen Lauf
Vor dir, <du> Bild im Steine,
Vor dir, du Wort darauf!
 
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