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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0546
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Stellenkommentar Pia, caritatevole, amorosissima, KSA 3, S. 341 531

Und - Niemand braucht's zu wissen -
Dies Bild - ich küßt' es schon.
Es giebt so viel zu küssen:
Seit wann küßt man denn - Thon!
Wer Das zu deuten wüßte!
Wie! Ich ein Grabstein-Narr!
Denn, ich gesteh's, ich küßte
Das lange Wort sogar." (NL 1884, 28[65], KSA 11, 330, 10-25)
341, 2 (Auf dem campo santo.)] Gemeint ist der im Südosten Genuas gelegene
Monumentalfriedhof Camposanto di Staglieno, der von dem Genueser Stadtar-
chitekten Carlo Barabino entworfen und Anfang des Jahres 1851 eröffnet wor-
den war. Der Friedhof zeichnet sich durch seine monumentale Anlage mit um-
laufenden Arkaden und Kolonnaden, einem in der Mitte thronenden Pantheon
sowie durch zahlreiche pompöse Grabskulpturen aus Carrara-Marmor aus. N.
war von dem Ort fasziniert und besuchte ihn mehrmals. Bereits kurz nach sei-
nem ersten Eintreffen in Genua teilte er Heinrich Köselitz auf einer Postkarte
vom 24. November 1880 mit: „Hier habe ich Gewühl und Ruhe und hohe Berg-
pfade und das, was schöner ist als mein Traum davon, das campo santo." (KSB
6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 67, S. 51, Z. 13 f.) Und diese Begeisterung hielt an. Noch Ende
Februar 1882 schreibt er an seine Mutter und seine Schwester: „Waehrend des
großen Carnevalzuges waren wir [N. und Paul Ree] auf dem Friedhofe dem
schoensten der schoensten der Erde." (KSB 6/KGB III/1, Nr. 203, S. 173, Z. 12-
14)
341, 3 f. Ο Mädchen, das dem Lamme I Das zarte Fellchen kraut] Ekphrastische
Apostrophe an das in der Grabskulptur abgebildete Mädchen, das N. in dem
oben zitierten Nachlass-Gedicht auch als „Bild im Steine" mit dem „Wort da-
rauf" anspricht. Zur Identifizierung der Grabplastik vgl. Sborgi 1997, 83, Abb.
113; nach Sborgi handelt es sich um ein Werk des Bildhauers G. Molinari aus
dem Jahr 1865, der Name auf dem Grabstein lautet Giacinto Ghilino. Die figürli-
che Darstellung des Mädchens, das einem Lamm das Fell krault (N. verwendet
die ältere Form „kraut"), verweist im Kontext des Zyklus auf die bukolische
Motivik, vor dem Hintergrund der Friedhofsszenerie jedoch vor allem auf die
christliche Ikonographie: auf Christus als das „Lamm Gottes" (Agnus Dei). Da
das angesprochene Mädchen(-Bildnis) wenig später als „fromm" und „mild[tä-
tig]" (341, 9) bezeichnet wird, spielt die religiöse Dimension auch im Folgenden
eine gewisse Rolle. Die schon im Gedichttitel greifbare Spannung zwischen
christlicher Caritas und geschlechtlichem Eros bildet die Grundproblematik des
dargestellten Mädchenschicksals.
 
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