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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0550
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Stellenkommentar Vogel Albatross, KSA 3, S. 341 535

Demgegenüber nimmt sich der poetische Sprecher in der Druckfassung ein
Stück weit zurück: Er ist nun nicht mehr selbst das ruhig-schwebende Subjekt,
sondern Beobachter des Vogelflugs, dem sein Abstand zu dessen Höhe
schmerzlich bewusst wird.
Die hierfür von N. benutzte vierzeilige Strophenform ist durch einen Wech-
sel von durch Kreuzreim verbundenen jambischen Drei- und Fünfhebern cha-
rakterisiert. Diese wiederholte Abfolge von rhythmisch fallenden und steigen-
den Versen, welche die eigentümliche metrische Bewegung dieses Gedichts
ausmacht, korrespondiert dem zentralen Thema des schwebenden Steigflugs
des Albatros. N. kehrt damit geläufige Vierzeiler-Formen um, bei denen auf
längere Verse deutlich kürzere folgen, d. h. ein langsamer rhythmischer An-
stieg einem schnellen Abfall voraufgeht.
341, 19 Vogel Albatross.] Albatrosse (korrekte deutsche Singular-Schrei-
bung: Albatros, in N.s Druckmanuskript: Albatroß), die vor allem in den Mee-
resgebieten der polaren und subpolaren Breiten der Südhalbkugel leben, gehö-
ren zu den größten Flugvögeln mit Flügelspannweiten von zwei bis dreieinhalb
Metern. Obwohl sie viel Kraft aufwenden müssen, um ihre langen Flügel zu
bewegen, handelt es sich um hervorragende Flieger, die aufgrund der von ih-
nen angewandten Segelflugtechnik extrem weite Strecken von tausenden Kilo-
metern zurückzulegen vermögen. Allerdings sind sie dafür auf hohe Windge-
schwindigkeiten angewiesen; bei Windstille können sie wegen ihres Körperge-
wichts nicht abheben.
In der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte spielten die exotischen
Albatrosse lange Zeit keine Rolle; dies änderte sich mit dem Beginn des ,Zwei-
ten Entdeckungszeitalters', zu dem die Weltumseglungen Louis-Antoine de
Bougainvilles und James Cooks in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ge-
hören. Für die französischen und englischen Seeleute hatten diese Vögel be-
sondere Bedeutung; einen Albatros zu töten, galt unter ihnen als unglückbrin-
gend. Die erste bedeutende europäische Albatros-Dichtung stammt von dem
englischen Romantiker Samuel Taylor Coleridge, dessen berühmte Ballade The
Rime of the Ancient Mariner (1798) von einem alten Seemann handelt, der einst
einen Albatros tötete und auf dem deshalb ein Fluch lastete. Baudelaires Ge-
dicht L'Albatros nimmt auf Berichte Bezug, wonach es unter Seeleuten Brauch
war, Albatrosse zu fangen, um sie dann allerdings wieder freizulassen.
341, 20 f. 0 Wunder! Fliegt er noch? I Er steigt empor und seine Flügel ruhn!]
Deiktische Evokation des aerodynamischen Segelflugs, der für den Albatros
charakteristisch ist. Es erscheint dem Sprecher als paradox, ja als Aufhebung
der Kausalität - deshalb die Exclamatio „0 Wunder!" -, dass der in der Fiktion
des Gedichts beobachtete Vogel weiter aufsteigt, ohne seine Flügel zu bewe-
 
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