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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0556
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Stellenkommentar Vogel-Urtheil, KSA 3, S. 342 541

konzeption des Gedichts wird deutlich: N. spielt hier zugleich mit der Doppel-
bedeutung von Urteil als Beurteilen und Verurteilen.
342, 10 f. Als ich jüngst, mich zu erquicken, I Unter dunklen Bäumen sass] Zu
Beginn wird der topische locus amoenus aufgerufen, wie er charakteristisch für
die Gattungstradition der Idylle ist, an die der Zyklus locker anschließt. Gilman
1976, 90 argumentiert überdies dafür, dass es sich um eine parodistische Auf-
nahme der Eingangsverse von Poes The Raven handelt: „Once upon a midnight
dreary, while I pondered, weak and weary / Over many a quaint and curious
volume of forgotten lore" (Poe 1845, 1).
342, 12-14 Hört' ich ticken, leise ticken, I Zierlich, wie nach Takt und Maass. I
Böse würd' ich, zog Gesichter] Was im Rückblick vom Gedichtschluss aus als
das Klopfen des Spechtes gegen den Baumstamm identifizierbar ist, wird hier
als leises Ticken wiedergegeben, das insofern schon etymologisch das Metrum
als Merkmal versgebundener (lyrischer) Dichtung assoziieren lässt, als es von
„Takt und Maass" geprägt erscheint: Das griechische Wort metron bedeutet
,Maß'. Das lyrische Ich fühlt sich durch dieses Ticken anfänglich noch in sei-
nem idyllischen' Naturgenuss gestört. Das Ticken lässt dabei auch an eine Uhr
denken. Im lyrischen „Vorspiel" von FW heißt es unter der Überschrift „Ge-
gen die Gesetze": „Es schweigt mir jegliche Natur / Beim Tiktak von Gesetz
und Uhr." (FW Vorspiel 48, KSA 3, 364, 9 f.) Vom „Tiktak" (der Poesie) ist im
Folgenden die Rede.
342, 16 f. Bis ich gar, gleich einem Dichter, I Selber mit im Tiktak sprach.] Paro-
die auf das besonders in der poetologischen Lyrik des 18. Jahrhunderts beliebte
Sujet der Dichter-Initiation (vgl. etwa Klopstocks Der Lehrling der Griechen
[1747] oder Goethes Harzreise im Winter [1777]; in beiden Gedichten ist eben-
falls, wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise, das Motiv der Dichter-
Genese mit dem Vogel-Motiv verflochten). Bei N. reduziert sich das Dichtertum
auf das bloße Sprechen „im Tiktak", das zugleich performativ und selbstiro-
nisch auf das vierhebige trochäische Versmaß des vorliegenden Gedichts Bezug
nimmt. Mit diesen und den (zu Beginn der zweiten Strophe) folgenden Versen
stimmen fast wörtlich die dichtungstheoretischen Gedanken überein, die N. in
der Fröhlichen Wissenschaft unter der Überschrift „Vom Ursprünge der
Poesie" formuliert. Dort wird nicht nur ebenfalls „das rhythmische Tiktak"
(FW 84, KSA 3, 440, 17 f.) genannt, sondern auch der vermeintliche Zwang
reflektiert, den dieses auf die Hörer ausübt: „der Rhythmus ist ein Zwang; er
erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur
der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach" (FW 84, KSA
3, 440, 22-25). Diesen „Zwang" demonstrieren - ihrerseits im Medium rhythmi-
scher Lyrik - die beiden letzten Verse der ersten Strophe.
 
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