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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0268
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248 Jenseits von Gut und Böse

ihr Blick oft genug der „von Unten hinauf“ - was in GD Das Problem des Sokra-
tes an Sokrates selbst exemplifiziert wird so dass der Anspruch einer Per-
spektive „von Oben herab“ nur allzu leicht als aus dem Ressentiment geborene
Wunschvorstellung von solchen erscheint, die in der realen „Rangfolge“ zu-
rückgesetzt waren.
Das scheinbar so klare Schema „esoterisch“/„exoterisch“ wird in JGB 30
seinerseits subvertiert, so dass das vermeintliche Bekenntnis zur Esoterik
schwerlich als Blaupause für heutige neoplatonisierende Esoteriker taugt. Mit
der Neu-Akzentuierung durch das Schema „von Oben herab“/„von Unten hi-
nauf“ (vgl. zur Froschperspektive NK 16, 28-31) wird die Unterscheidung „in-
nen“/„außen“ ausgehebelt. Weniger problematisch wird die Vermischung bei-
der Schemata freilich in der N.-Forschung gemeinhin gesehen, vgl. z. B.
Schmid 1984, 55-66; Böning 1988, 265-267; Strobel 1998, 46-49 u. Coriando
2003, 85-88.
48, 22-27 Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie
aufhört, tragisch zu wirken; und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer dürf-
te zu entscheiden wagen, ob sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden
und dergestalt zur Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde? ...]
Hier wird eine entschiedene Differenz zum Tragödienverständnis bei Aristote-
les markiert. Dieser hat in seiner Poetik 1453b 1 ff. u. 1449b 26-30 die Wirkung
der Tragödie als Reinigung der von ihr im Zuschauer aufgerufenen Affekte
Furcht (cpoßoc;) und Mitleid/Erbarmen (eAeoc;) - so die traditionelle Überset-
zung - bestimmt (vgl. z. B. NK KSA 6, 174, 4-7 u. NK KSA 6, 160, 18-21). Dass
der Chor in der klassischen Tragödie Mitleid artikuliere, hat N. - gegen alle
historische Evidenz und unter stillschweigender Zuhilfenahme Schopenhauers
(vgl. NK KSA 1, 63, 6-11, ferner NK KSA 1, 152,1-16) - in GT 8 behauptet; in AC
7 sollte er dann seine Argumente gegen das Mitleid als unerwünschte Vermeh-
rung des Leidens zu bündeln suchen (vgl NK 6/2, S. 51-60). In JGB 30 wird
eine olympische Gleichgültigkeit gegenüber der Tragödie - und damit implizit
gegenüber allem irdischen Leiden - angemahnt, was immerhin den Vorteil hat,
das Leiden nicht im Mitleiden zu verdoppeln. Der Nachteil ist allerdings, dass
sich derjenige, den nicht einmal mehr die Tragödie zu rühren vermag, in seiner
Seelenruhe bedenklich der „Bildsäulenkälte“ annähert, die JGB 198 an den
Stoikern lächerlich macht (vgl. NK 118, 20-22). Das Problem besteht vor allem
darin, dass der Anspruch auf den Blick „von Oben herab“ genau jenes philoso-
phische Rollenverständnis reproduziert, das im Ersten Hauptstück von JGB zu-
rückgewiesen wird, nämlich die Vorstellung vom Philosophen als dem Herrn
des Überblicks, den letztlich irdische Belange nichts angehen. Vgl. zu 48, 22-
27 auch Poljakova 2013, 223 f.
 
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