Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0267
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 30, KSA 5, S. 48 247

die bei N. früh greifbare These nach, dass das Christentum eine egalisierende
Wirkung entfaltet habe, die der „Rangordnung“ und damit einer Unterschei-
dung zwischen einem Standpunkt der höheren Eingeweihten und einem des
gemeinen Volkes feindlich gewesen sei.
Obwohl spätestens seit Lukian (Vitarum auctio 26) bei Aristoteles zwischen
esoterischen und exoterischen Schriften unterschieden wurde (vgl. schon Aris-
toteles: Nikomachische Ethik 1102a 26; Politik 1278b 31 u. Metaphysik 1076a 28),
benutzte doch ausgerechnet der Christ Clemens Alexandrinus als erster den
Ausdruck EOGJTEptKÖq, „dem inneren Kreis“ zugehörend, im Sinne von „ge-
heim“ (Stromateis V 9). Begriffsgeschichtlich ging es beim Gegensatzpaar
EOGJTEpiKÖq und E^GJTEptKÖq anfangs nur um die Frage, wie denn die Schriften
des Aristoteles zu gruppieren seien, bevor - namentlich in der Platon-Interpre-
tation des 19. Jahrhunderts - nicht nur Platons unterschiedliche Philosophie-
vermittlungstrategien mit dieser Dichotomie gefasst werden sollten, sondern
EOGJTEpiKÖq und E^GJTEptKÖq sich überhaupt als allgemeines Differenzierungs-
schema intellektueller Exklusion und Inklusion anboten.
JGB 30 trägt nun in die von der philosophischen und religionswissen-
schaftlichen Tradition etablierte Unterscheidung „esoterisch“/„exoterisch“ als
(Nicht-)Eingeweihtsein in Schul- oder Kult(ur)praktiken eine sozial-selektieren-
de Komponente ein, deklariert sie unter dem Stichwort der „Rangordnung“ als
gesellschaftliche Stratifikation. Dabei wird unterschlagen, dass die politisch-
ökonomische Stellung einer Person und ihre Zugehörigkeit zu einem philoso-
phischen Schul- oder einem religiösen Kultzusammenhang in der vorchristli-
chen Antike oft genug einander nicht nur nicht korrespondierten, sondern dass
die esoterischen Schulen und Kulte die politisch-ökonomische Stellung häufig
unterlaufen, ja geradezu eine Gegenordnung zur gesellschaftlichen Stratifikati-
on etabliert haben: Wer (nach der ahistorischen Terminologie des 19. Jahrhun-
derts) zu den Esoterikern beispielsweise in der Orphik, im Mithraismus, im
Pythagorismus oder in der Platonischen Akademie gehörte, der bekleidete da-
mit keineswegs zwangsläufig eine herausgehobene Position in der Polis oder
im Reich. Vielmehr war er häufig Bestandteil einer Gruppe, die sich von der
„Rangordnung“ in der Polis oder im Reich bewusst abgrenzte. Greift man den
Platonismus heraus, so lässt sich die Abschottung, die Esoterik der Akademie
geradezu als Reaktion auf die Enttäuschung über die politische Ohnmacht der
Philosophen - des hingerichteten Sokrates, des auf Syrakus politisch unglück-
lich agierenden Platon - verstehen: Die Esoterik der Lehre erscheint dann als
bewusste Gehorsamsverweigerung gegenüber der allgemein etablierten „Rang-
ordnung“ (was im übrigen auch für die Esoterik des frühen Christentums und
der Gnosis gilt). Zwar mögen sich manche der antiken Philosophen eingebildet
haben, „von Oben herab“ auf „die Dinge“ zu blicken, sozial jedoch war
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften