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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0341
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Stellenkommentar JGB 46, KSA 5, S. 66 321

flüssig geworden seien (vgl. z. B. AC 41, dazu NK 6/1, S. 194-196). Dennoch
hätte N. starke Indizien für eine (trotz der durch Christi Kreuzestod eigentlich
allgemein bewirkten Erlösung) anhaltende Opferbedürftigkeit und Selbstopfe-
rungsmentalität in der christlichen Religionsgeschichte als einer Geschichte
des Verzichts namhaft machen können - bis hin zum Verzicht auf das eigene
Leben im Martyrium. JGB 46 legt den Finger vor allem auf die physischen und
geistigen Praktiken der Askese, die als „Selbst-Verstümmelung“ begriffen
wird - ohne freilich zu zeigen, dass sich diese Praktiken grundlegend von an-
deren (antiken) Religionen unterschieden hätten. Sloterdijk 2011, 52-68 stellt
N. dennoch als „Schliemann der Askesen“ (ebd., 59) ans Licht, der die eminen-
te Kulturbedeutung der Übungs- und Selbstmodellierungspraktiken erstmals
in der Moderne philosophisch entdeckt habe - und zwar normativ orientiert
an nicht-christlichen, damit nicht weit- und selbstverneinenden Askese-For-
men der Antike. Auch Max Weber hat sich partiell an N.s variablen Askese-
Konzepten orientiert, vgl. Treiber 2016, 168 f.
66, 28-30 zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümme-
lung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus in diesem Glauben] Das anti-
ke Volk der Phönizier hat angeblich grausame Opferpraktiken gepflegt. N.
konnte beispielsweise bei Hellwald 1883-1884,1, 237 erfahren, dass „der Astar-
te- oder Mylitta-Dienst [...] in Phönikien“ auftrat, „wo er und der verwandte
Baaldienst zahlreiche Menschenopfer verschlangen.“ In JGB 229,166, TI f. wird
kurz die „Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen“ erwähnt,
was thematisch, wenn auch ohne Erwähnung der Phönizier, in NL 1884, KSA
11, 25[410] 119,14-16 anklingt: „Entwicklung der Grausamkeit: Freu-
de im Anblick des Leidenden — auch bei blutigen Culten als Gö11er-
freu de vorausgesetzt (die Selbstverstümmelung).“ Praktiken der Selbstver-
stümmelung wurden in der zeigenössischen Literatur besonders mit dem Astar-
te-Kult in Verbindung gebracht. Auf einer Liste ,,[z]u lesende[r] Bücher“
vermerkte N. in NL 1879, KSA 8, 39[8], 577, 1-5 neben „Lenormant, Phoeni-
zien usw.“ (gemeint sind Francois Lenormants Die Anfänge der Cultur, wo die
„Kadmosfrage“ und die phönizischen Kolonien in Griechenland behandelt
werden - Lenormant 1875, 2, 223-309) „Duncker, Geschichte, erster Band.“
Der erste Band der in mehreren Auflagen erschienenen Geschichte des Alter-
thums von Max Duncker verbreitet sich ausführlich über die religiösen Prakti-
ken der „Semiten“ und spricht darüber, wie „die lascive und wollüstige Seite
des Kultus bei den syrischen Stämmen, namentlich in den phoenikischen Städ-
ten noch weiter ausgebildet wird. Doch fehlte auch der Gegensatz nicht. Neben
dem Kultus der Wollust, welcher den zeugenden Mächten der Natur hier ge-
weiht wird, dient man andern Göttern, welche dem natürlichen Leben fremd
und feindselig gedacht werden, mit strenger /347/ Enthaltung, mit einer grau-
 
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