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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0340
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320 Jenseits von Gut und Böse

Form des Suizids hatte N. in Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une morale sans
Obligation ni sanction gefunden; seine einschlägigen, im Original nicht erhalte-
nen Lesespuren sind dokumentiert in der deutschen Übersetzung. „En fait, la
doctrine de la foi morale, — du devoir librement accepte par la volonte, de
l’incertitude tranchee par un coup d’energie interieure, — rappelle, comme on
l’a dit, le pari de Pascal. Seulement, ce pari ne peut plus avoir de mobiles
comme ceux de Pascal. Nous sommes sürs, de nos jours, que Dieu, s’il existe,
n’est point l’etre vindicatif et cruel que se figurait Port-Royal [...] /127/ [...] Croi-
re, c’est affirmer comme reel pour moi ce que je congois simplement comme
possible en soi, parfois meme comme impossible; c’est donc vouloir fonder une
verite artificielle, une verite d’apparence, c’est en meme temps se fermer ä la
verite objective qu’on repousse d’avance sans la connaitre. [...] Sur quelque
question que ce soit, le doute est donc toujours meilleur que l’affirmation sans
retour, le renoncement ä toute initiative personnelle qu’on appelle la foi. Cette
sorte de suicide intellectuel est inexcusable, et ce qui est encore plus etrange,
c’est de pretendre le justifier, comme on le fait d’habitude, en invoquant des
raisons morales.“ (Guyau 1885, 126 f. „In der Tat erinnert die Lehre von dem
Glauben an das Sittliche, von der freiwillig übernommenen Pflicht, die Lehre
von der Ungewißheit, die durch inneren Willensantrieb beseitigt wird, an die
Wette von Pascal. Nur kann diese Wette nicht mehr dieselbe Triebfeder
haben, wie bei Pascal. Wir sind heutzutage sicher, daß Gott, wenn er existiert,
nicht mehr das rachsüchtige und grausame Wesen ist, als das ihn sich Port-
Royal vorstellte. [...] Glauben heißt: für sich selbst etwas als wirklich aner-
kennen, was man als an sich nur möglich, oft sogar als unmöglich begreift.
Es heißt also eine künstliche, eine Scheinwahrheit aufstellen wollen, es heißt
gleichzeitig sich der objektiven Wahrheit verschließen, sie von vornherein zu-
rückweisen, ohne sie zu kennen. [...] Bei jeder auftretenden Frage ist also Zwei-
fel besser als die ein für allemal abschließende Bejahung, wie der Verzicht
auf jede persönliche Initiative, den man Glauben nennt. Diese Art geistiger
Selbstmord ist unentschuldbar, und es befremdet uns aufs höchste, daß man,
wie es häufig geschieht, sittliche Gründe anführt, um den Glauben zu rechtfer-
tigen.“ Guyau 1909, 88-90. N.s Unterstreichungen, mit Randstrich und „NB“
markiert, vgl. ebd., 285).
66, 26-28 Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller
Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes] Diese Deutung des
Christentums nimmt dessen Selbstverständnis insofern auf, als im Zentrum des
Christentums (wie anderer antiker Mysterienreligionen) das Opfer steht, näm-
lich das Opfer Christi am Kreuz (vgl. z. B. Hebräer 5, 1-3; Epheser 5, 2). Jedoch
widerstreitet diese Deutung zugleich dem christlichen Selbstverständnis, wo-
nach infolge der Selbstopferung von Gottes Sohn weitere Opferleistungen über-
 
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