Stellenkommentar JGB 46, KSA 5, S. 66 319
gewesen sei (z. B. Hellwald 1883-1884,1, 547 u. 555), wohingegen das Christen-
tum von den „Semiten“ die „religiöse Intoleranz“ geerbt habe.
66,19-22 dieser Glaube ist nicht jener treuherzige und bärbeissige Untertha-
nen-Glaube, mit dem etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer
Barbar des Geistes an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben] Das Motiv
kehrt wieder in JGB 50, KSA 5, 70, 26-28: „Die Leidenschaft für Gott: es giebt
bäurische, treuherzige und zudringliche Arten, wie die Luther’s, — der ganze
Protestantismus entbehrt der südlichen delicatezza.“ Auf N.s Lutherbild im
Spätwerk, namentlich auch in FW 358, haben die Werke des katholischen Kir-
chenhistorikers Johannes Janssen einen markanten Einfluss ausgeübt (Janssen
1879 u. Janssen 1882, vgl. detailliert Orsucci 1996, 352-364). Mit dem Gegensatz
zwischen nordischer Borniertheit und „südländische[r] Freiheit und Frei-
sinnigkeit des Geistes“ (KSA 3, 603, 6) sowie ,,vornehme[r] Skepsis“ (KSA 3,
603, 15), die nach FW 358 die katholische Kirche gekennzeichnet habe, bis
Luther täppisch-bäurisch dagegen aufgetreten sei, operiert bis in die Wortwahl
hinein allerdings auch schon Hellwald in seiner Kulturgeschichte: „Der Gegen-
satz in der reformirenden Thätigkeit der romanischen und der germanischen
Nationen liegt klar am Tage. Die Deutschen waren schon lange ein Volk der Den-
ker, d. h. sie dachten viel. Vieldenken ist aber nicht gleichbedeutend mit Wahr-
denken. Ihr Denken war vielmehr von einer tiefen Gläubigkeit beherrscht, wel-
che die Zustände der Kirche, des geträumten Ideals, ihnen geradezu entsetzlich
erscheinen liessen, während die Skepsis der Südländer leichtfertig davon absah.
So wächst denn fast naturgemäss die imposante Gestalt des deutschen Mönches
MartinLuther aus dem deutschen Fühlen und Denken hervor, und gewiss ist
es kein Zufall, dass des grossen Reformators Wiege nördlich vom 51° n. Br. stand
und seine Lehre vorzugsweise auf die hohen Breiten beschränkt blieb“ (Hellwald
1883-1884,2,432). Vgl. auch Taine 1878b-1880b, 1,549-563.
Neben dem für seinen Puritanismus berühmten englischen Lordprotektor
Oliver Cromwell (1599-1658) ist in der Vorarbeit KGW IX 5, W I 8, 197, 29 auch
noch der zeitweise für Cromwell schreibende Dichter John Milton (1608-1674)
genannt - und durchgestrichen. Zu N. und Cromwell vgl. Zavatta 2006, 280.
In Hippolyte Taines Geschichte der englischen Literatur hat N. sich über Thomas
Carlyles Cromwell-Buch unterrichtet (Taine 1878b-1880b, 3, 437-441, vgl. NK
80, 12-24.).
66, 22-26 viel eher schon jener Glaube Pascal’s, der auf schreckliche Weise
einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, — einer zähen langlebi-
gen wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche todtzu-
machen ist] Vgl. z. B. NK KSA 6, 285, 11-15 u. NK KSA 6, 171, 30-34. Die direkte
Assoziation von Pascal, der Frömmigkeit von Port-Royal und dem Glauben als
gewesen sei (z. B. Hellwald 1883-1884,1, 547 u. 555), wohingegen das Christen-
tum von den „Semiten“ die „religiöse Intoleranz“ geerbt habe.
66,19-22 dieser Glaube ist nicht jener treuherzige und bärbeissige Untertha-
nen-Glaube, mit dem etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer
Barbar des Geistes an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben] Das Motiv
kehrt wieder in JGB 50, KSA 5, 70, 26-28: „Die Leidenschaft für Gott: es giebt
bäurische, treuherzige und zudringliche Arten, wie die Luther’s, — der ganze
Protestantismus entbehrt der südlichen delicatezza.“ Auf N.s Lutherbild im
Spätwerk, namentlich auch in FW 358, haben die Werke des katholischen Kir-
chenhistorikers Johannes Janssen einen markanten Einfluss ausgeübt (Janssen
1879 u. Janssen 1882, vgl. detailliert Orsucci 1996, 352-364). Mit dem Gegensatz
zwischen nordischer Borniertheit und „südländische[r] Freiheit und Frei-
sinnigkeit des Geistes“ (KSA 3, 603, 6) sowie ,,vornehme[r] Skepsis“ (KSA 3,
603, 15), die nach FW 358 die katholische Kirche gekennzeichnet habe, bis
Luther täppisch-bäurisch dagegen aufgetreten sei, operiert bis in die Wortwahl
hinein allerdings auch schon Hellwald in seiner Kulturgeschichte: „Der Gegen-
satz in der reformirenden Thätigkeit der romanischen und der germanischen
Nationen liegt klar am Tage. Die Deutschen waren schon lange ein Volk der Den-
ker, d. h. sie dachten viel. Vieldenken ist aber nicht gleichbedeutend mit Wahr-
denken. Ihr Denken war vielmehr von einer tiefen Gläubigkeit beherrscht, wel-
che die Zustände der Kirche, des geträumten Ideals, ihnen geradezu entsetzlich
erscheinen liessen, während die Skepsis der Südländer leichtfertig davon absah.
So wächst denn fast naturgemäss die imposante Gestalt des deutschen Mönches
MartinLuther aus dem deutschen Fühlen und Denken hervor, und gewiss ist
es kein Zufall, dass des grossen Reformators Wiege nördlich vom 51° n. Br. stand
und seine Lehre vorzugsweise auf die hohen Breiten beschränkt blieb“ (Hellwald
1883-1884,2,432). Vgl. auch Taine 1878b-1880b, 1,549-563.
Neben dem für seinen Puritanismus berühmten englischen Lordprotektor
Oliver Cromwell (1599-1658) ist in der Vorarbeit KGW IX 5, W I 8, 197, 29 auch
noch der zeitweise für Cromwell schreibende Dichter John Milton (1608-1674)
genannt - und durchgestrichen. Zu N. und Cromwell vgl. Zavatta 2006, 280.
In Hippolyte Taines Geschichte der englischen Literatur hat N. sich über Thomas
Carlyles Cromwell-Buch unterrichtet (Taine 1878b-1880b, 3, 437-441, vgl. NK
80, 12-24.).
66, 22-26 viel eher schon jener Glaube Pascal’s, der auf schreckliche Weise
einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, — einer zähen langlebi-
gen wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche todtzu-
machen ist] Vgl. z. B. NK KSA 6, 285, 11-15 u. NK KSA 6, 171, 30-34. Die direkte
Assoziation von Pascal, der Frömmigkeit von Port-Royal und dem Glauben als