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Vorwort zu NK 5/2
„Ich sehe Niemanden, der eine Kritik der moralischen Werthurtheile gewagt
hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugier-
de, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und Historiker-Einbildungs-
kraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne
recht zu wissen, was da erhascht ist. [...] — Niemand also hat bisher den
Werth jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zu-
allererst gehört, dass man ihn einmal — in Frage stellt." (FW 345, KSA 3,
578, 13-579, 26) Dieser Wegleitung aus dem fünften, 1887 erschienenen Buch
der Fröhlichen Wissenschaft (FW) folgt die im selben Jahr entstandene „Streit-
schrift" Zur Genealogie der Moral (GM), die gemäß einem Hinweis auf der Titel-
rückseite ,,[d]em letztveröffentlichten Jenseits von Gut und Böse' zur
Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben" (Nietzsche 1887a, [II]) werden
sollte. Man hat GM in den letzten Jahrzehnten freilich sehr oft nicht als Ergän-
zungs- und Verdeutlichungswerk, sondern als (ein) Hauptwerk verstehen wol-
len - wahrscheinlich auch deshalb, weil Nietzsche darin einer Argumentati-
ons- und Verfahrensweise nahezukommen scheint, die wie ,Wissenschaft‘ aus-
sieht und daher wissenschaftlich ,anschlussfähig' anmutet. Bei genauerem
Hinsehen ist es um die ,Wissenschaftlichkeit' von GM in vielerlei Hinsicht prob-
lematisch bestellt - was allerdings ihrem philosophisch-literarischen Wert kei-
nen Abbruch tut; eher ist das Gegenteil der Fall.
Die Problematik lässt sich exemplarisch an Nietzsches Umgang mit seinen
Quellen verdeutlichen, bei denen es sich großteils um zeitgenössische For-
schungsliteratur aus allen möglichen Disziplinen handelt, die er freilich in den
seltensten Fällen nachweist. Stattdessen verwertet er sie einerseits als Material-
halden für Autoritätszitate aus Antike, Mittelalter und Neuzeit. Anderererseits
benutzt er Thesen und Ideen aus dieser Forschungsliteratur und prägt sie zu
eigenen Zwecken um. Der Verfasser von GM verschleiert, ja vernichtet systema-
tisch die Kontexte, aus denen heraus er denkt und schreibt. Der Kommentar
hingegen versucht, diese Kontexte zu restituieren und Nietzsches Gedanken im
Kontext zu verstehen - ohne damit ihre Originalität zu schmälern, die sich erst
wirklich vor dem Hintergrund der Kontexte ermessen lässt.
Nietzsches Strategien der Verschleierung verdienten es, einmal eingehend
typologisiert zu werden, ebenso wie seine Strategien der Hengstbissigkeit: Ge-
rade in GM lassen sich zahlreiche Versuche nachweisen, diejenigen intellektu-
ellen Akteure aus der Publikumsgunst wegzubeißen, die ihm eigentlich beson-
ders nahe sein müssten, während er von ihnen fundamental geschieden zu
sein vorgibt (zu den terroristischen Schreibpraktiken literarischer Avantgarden
siehe Paulhan 1973).

https://d0i.org/10.1515/9783110293371-202
 
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