12 Zur Genealogie der Moral
gienge, ohne mich auch nur zu besinnen. Es handelt sich um ein Attentat auf
die Tugend (oder wie man's nennen will); ich spreche mit einer leidenschaft-
lichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwersten Probleme, die
es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schone dabei, wie es
in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenig als irgend was
und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Sprache erfunden für diese
in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hört wieder nichts als Stil,
noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seine Hoffnung auf Nietz-
sche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken." (N. an Spitteler,
10. 02. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 988, S. 247, Z. 24-37).
Spitteler hatte in einem „Nachtrag" auf GM hingewiesen und dabei eine
kurze Inhaltsangabe der drei Abhandlungen gegeben: „Nietzsche zeigt zu-
nächst, wie ursprünglich der Begriff des Richtig-Handelns vom Rassenadel (im
Sinne eines edlen ,blonden' Raubtiers aufgefaßt) abstrahiert wurde, welchem
ein an Rasse schlechter Pöbel gegenüberstand. Das Priestervolk der Juden da-
gegen abstrahierte aus dem Pöbel unsere Begriffe ,bös‘ und ,gut'. Triebfedern
dieser Begriffe sind der Neid und der Haß. Scharfsinnig wird entwickelt, wie
selbst im Begriff der christlichen Liebe noch Neid und Haß zu erkennen sind. /
Die zweite Abhandlung erläutert die Entstehung der einzelnen Moralbegriffe,
wobei der Begriff ,Strafe' eine eigentümliche Begründung erfährt. / Die dritte
Abhandlung bearbeitet das Thema: Woher stammen die asketischen Moral-Ide-
ale? Von den Künstlern? Nein. Von den Philosophen? Ebenfalls nicht, denn
ihre asketischen Prinzipien sind nur versteckte professionelle Bedürfnisse. Hie-
bei fallen prächtige Worte gegen die „Verleumder der Sinnlichkeit"; und mit
Fug und Recht behauptet Nietzsche gegen Kant, daß alle Kunst, selbst die ide-
alste, auf verfeinerter Sinnlichkeit beruhe. Bemerkenswert sind antiwagner-
sche Sätze, zum Beispiel: ,Die Verödung des deutschen Geistes stammt von der
Politik, vom Bier, von der Wagnerschen Musik.' Die Schuld an der asketischen
Moral tragen allein die Priester. Wohltuend sind die Worte der Empörung, wel-
che Nietzsche über die Heuchelei der heutigen Moral findet. Unsere Zeit ist ,so
verlogen, daß sies nicht einmal mehr merkt', ,unehrlich-verlogen, tugendhaft-
verlogen, blauäugig-verlogen'. Nietzsches ,blondes Raubtier' muß demnach
dunkle Augen haben. Und wer wollte unserm Verfasser nicht Beifall klatschen,
wenn er die Feigheit der Prüderie brandmarkt, welche sogar die Memoiren gro-
ßer Männer verstümmelt?" (KGB III 7/3, 2, S. 971 f.) Und Spitteler schließt sei-
nen Essay mit der Passage, die N. in seiner brieflichen Replik fast wörtlich
paraphrasiert: „Der Stil der ,Genealogie' ist das Gegenteil eines guten. Der Ver-
fasser, ohne sich zu sammeln oder sich nur zu besinnen, wirft alles auf das
Papier, was ihm durch den Kopf läuft, darunter derbe Grobheiten. Unsere Hoff-
nungen auf Nietzsche, den Schriftsteller, sind durch die ,Genealogie' bedeu-
gienge, ohne mich auch nur zu besinnen. Es handelt sich um ein Attentat auf
die Tugend (oder wie man's nennen will); ich spreche mit einer leidenschaft-
lichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwersten Probleme, die
es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schone dabei, wie es
in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenig als irgend was
und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Sprache erfunden für diese
in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hört wieder nichts als Stil,
noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seine Hoffnung auf Nietz-
sche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken." (N. an Spitteler,
10. 02. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 988, S. 247, Z. 24-37).
Spitteler hatte in einem „Nachtrag" auf GM hingewiesen und dabei eine
kurze Inhaltsangabe der drei Abhandlungen gegeben: „Nietzsche zeigt zu-
nächst, wie ursprünglich der Begriff des Richtig-Handelns vom Rassenadel (im
Sinne eines edlen ,blonden' Raubtiers aufgefaßt) abstrahiert wurde, welchem
ein an Rasse schlechter Pöbel gegenüberstand. Das Priestervolk der Juden da-
gegen abstrahierte aus dem Pöbel unsere Begriffe ,bös‘ und ,gut'. Triebfedern
dieser Begriffe sind der Neid und der Haß. Scharfsinnig wird entwickelt, wie
selbst im Begriff der christlichen Liebe noch Neid und Haß zu erkennen sind. /
Die zweite Abhandlung erläutert die Entstehung der einzelnen Moralbegriffe,
wobei der Begriff ,Strafe' eine eigentümliche Begründung erfährt. / Die dritte
Abhandlung bearbeitet das Thema: Woher stammen die asketischen Moral-Ide-
ale? Von den Künstlern? Nein. Von den Philosophen? Ebenfalls nicht, denn
ihre asketischen Prinzipien sind nur versteckte professionelle Bedürfnisse. Hie-
bei fallen prächtige Worte gegen die „Verleumder der Sinnlichkeit"; und mit
Fug und Recht behauptet Nietzsche gegen Kant, daß alle Kunst, selbst die ide-
alste, auf verfeinerter Sinnlichkeit beruhe. Bemerkenswert sind antiwagner-
sche Sätze, zum Beispiel: ,Die Verödung des deutschen Geistes stammt von der
Politik, vom Bier, von der Wagnerschen Musik.' Die Schuld an der asketischen
Moral tragen allein die Priester. Wohltuend sind die Worte der Empörung, wel-
che Nietzsche über die Heuchelei der heutigen Moral findet. Unsere Zeit ist ,so
verlogen, daß sies nicht einmal mehr merkt', ,unehrlich-verlogen, tugendhaft-
verlogen, blauäugig-verlogen'. Nietzsches ,blondes Raubtier' muß demnach
dunkle Augen haben. Und wer wollte unserm Verfasser nicht Beifall klatschen,
wenn er die Feigheit der Prüderie brandmarkt, welche sogar die Memoiren gro-
ßer Männer verstümmelt?" (KGB III 7/3, 2, S. 971 f.) Und Spitteler schließt sei-
nen Essay mit der Passage, die N. in seiner brieflichen Replik fast wörtlich
paraphrasiert: „Der Stil der ,Genealogie' ist das Gegenteil eines guten. Der Ver-
fasser, ohne sich zu sammeln oder sich nur zu besinnen, wirft alles auf das
Papier, was ihm durch den Kopf läuft, darunter derbe Grobheiten. Unsere Hoff-
nungen auf Nietzsche, den Schriftsteller, sind durch die ,Genealogie' bedeu-