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20 Zur Genealogie der Moral

das sonst in philosophischen Büchern üblich ist. Das Werk möchte nicht vor-
führen, wie die Dinge ,an sich' sind, oder wie die Menschen ,überhaupt' zu
handeln haben. Vielmehr deckt GM auf, dass das, was wir für Wahrheiten ,an
sich' und für eine universell gültige Moral halten, Produkte kontingenter Ent-
wicklungen sind: Es hätte auch ganz anders kommen können. Diese Entwick-
lungen wiederum werden keineswegs als Fortschritt verstanden. Sie indizieren
mitnichten das Heraustreten der tierhaften Menschheit aus anfänglicher Barba-
rei zu immer größerer Weisheit, Zivilisiertheit und Güte. Unser moderner Mo-
ralhaushalt verdankt sich GM zufolge nicht dem Sieg des besseren Arguments
oder dem allgemeinen Erreichen des größtmöglichen Nutzens für alle, sondern
lediglich der Verschiebung von Machtverhältnissen. Als „Streitschrift" kündigt
das Werk der Idee der Gleichheit aller Menschen ebenso den Kredit auf wie
den Tugenden der Bescheidenheit, der Demut und des Mitleids.
In den Jahren vor GM war N. einerseits mit aphoristischen Werken wie MA,
M, FW und JGB hervorgetreten, andererseits hatte er mit Za eine Art philoso-
phisches Epos vorgelegt, das im hohen Ton der Prophetie den Protagonisten
Zarathustra säkulare Verkündigungen verlautbaren ließ - auch wenn Za durch
das Medium der Parodie den prophetischen Anspruch bricht (vgl. Meier 2017).
GM bietet demgegenüber weder philosophische Verkündigungsepik noch einen
bunten Strauß von Aphorismen vermischten Inhalts (dazu Schacht 2013,
328 f.), sondern besteht aus einer programmatischen Vorrede und drei Abhand-
lungen, die schon in den Überschriften den moralgenealogischen Generalnen-
ner deutlich machen: Zentrale Elemente der Gegenwartsmoral stehen zur Dis-
position. Die Erste Abhandlung heißt „Gut und Böse", „Gut und Schlecht", die
Zweite „Schuld", „schlechtes Gewissen" und Verwandtes, die Dritte fragt: Was
bedeuten asketische Ideale? Jedoch ist die strenge logische Linienführung des
Gedankengangs oft eher behauptet als vollzogen; die dritte Abhandlung soll
sogar nur die Auslegung eines vorangestellten „Aphorismus" sein (vgl. NK 255,
31-256, 2).
Umfasst GM insgesamt in der Erstauflage XIV und 182 paginierte Seiten
sowie etwa 266'000 Zeichen (ohne Leerschläge), so entfallen davon auf die
römisch paginierte Vorrede von 8 Abschnitten 12 Seiten und 14'000 Zeichen;
auf die Erste Abhandlung von 17 Abschnitten 38 Seiten und 54'000 Zeichen;
auf die Zweite Abhandlung von 25 Abschnitten 52 Seiten und 75'000 Zeichen;
auf die Dritte Abhandlung von 28 Abschnitten 85 Seiten und 123'000 Zeichen
(jeweils ohne Zwischentitel- und Leerblätter gerechnet. Scheier 1994, 449 f.
beobachtet, dass sich - lässt man die Vorrede weg - genau 70 Abschnitte
ergeben, was der Anzahl der Kapitel von Za I-III entspricht, allerdings ein-
schließlich der „Vorrede Zarathustra's").
Schon die Erste Abhandlung übt sich mit einer kühnen Hypothese im For-
tissimo der Provokation und steigt dazu tief in die Sprachgeschichte der Moral
 
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