22 Zur Genealogie der Moral
Es handelt sich um ein Ideal, das mannigfache Manifestationsformen haben
und darauf abzielen soll, die irdische Welt, das irdische Leben zu verneinen.
Dass sich die Priester seiner bemächtigen, um damit die kranken Menschen
anzuleiten, überrascht weniger als die Feststellung, dass selbst die Wissen-
schaft - die sich doch in der Neuzeit vielfach betont antireligiös und antimeta-
physisch gebärdet - von diesem Ideal bestimmt sei: Der in der Wissenschaft
obwaltende „Wille zur Wahrheit" (GM III 24, KSA 5, 400, 9 f.) sei nichts anderes
als der letzte Ausdruck dieses asketischen Ideals. Und tatsächlich habe es - so
schließt der 28. Abschnitt und damit auch das Werk insgesamt - niemals ein
anderes Ideal gegeben als das asketische: „Die Sinnlosigkeit des Leidens,
nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet
lag, — und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher
der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn" (GM III 28, KSA 5,
411, 19-23). N. lässt seine Leser mit der Frage allein, wie denn wohl ein neues
Ideal entstehen könnte oder gar zu schaffen wäre.
GM quält mit Fragen, ohne durch Antworten zu beruhigen - obwohl das
Werk offensichtlich nicht nur einen diagnostischen, sondern ebenso einen the-
rapeutischen Horizont hat, also beispielsweise der Herrschaft des asketischen
Ideals als einer moralgeschichtlichen Pandemie den Kampf ansagen und die
Menschheit kurieren (und nicht bloß wie die Priester betäuben) will. Jedenfalls
hat man in GM keinen herkömmlichen Text der Geschichtsschreibung vor Au-
gen, aber vielleicht doch die praktische Antwort auf das Problem, das N. - im
Anschluss an den Bericht über die als unerquicklich empfundene Lektüre der
Werke Ernest Renans zur Frühgeschichte des Christentums - in seinem Brief
an Overbeck vom 23. 02. 1887 formuliert: „Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis
zur Frage, ob Geschichte überhaupt mög1ich ist? Was will man denn feststel-
len? — etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht ,feststand?"'
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 804, S. 28, Z. 37-40) Wäre GM folglich als Versuch zu
verstehen, mittels Polemik und unausgesetzter Leser-Provokation die Feststel-
lung, die Suggestion der Feststellbarkeit zu sabotieren? Jedenfalls handelt es
sich um einen Text, der durch das Hinterfragen die Leser unerbittlich in die
Verantwortung nimmt: Sie sollen gezwungen werden, sich zum Gesagten zu
verhalten. Ein Mittel dazu ist die hochgradige Emotionalisierung, die es den
Lesern schwer macht, sich selbst kritisch zu N.s Äußerungen zu verhalten, so
sehr diese Emotionalisierung auch Denkräume eröffnen kann (vgl. Janaway
2007a, 202-212 u. Aumann 2014): Der Text ist darauf angelegt, die Leser mitzu-
reißen, so dass bei aller darin gebotenen Problematisierung des bisher Gelten-
den und Gewohnten kaum mehr Raum bleibt, zur Problematisierung dieser
Problematisierung fortzuschreiten. Solchen Raum soll freilich der vorliegende
Kommentar schaffen.
Es handelt sich um ein Ideal, das mannigfache Manifestationsformen haben
und darauf abzielen soll, die irdische Welt, das irdische Leben zu verneinen.
Dass sich die Priester seiner bemächtigen, um damit die kranken Menschen
anzuleiten, überrascht weniger als die Feststellung, dass selbst die Wissen-
schaft - die sich doch in der Neuzeit vielfach betont antireligiös und antimeta-
physisch gebärdet - von diesem Ideal bestimmt sei: Der in der Wissenschaft
obwaltende „Wille zur Wahrheit" (GM III 24, KSA 5, 400, 9 f.) sei nichts anderes
als der letzte Ausdruck dieses asketischen Ideals. Und tatsächlich habe es - so
schließt der 28. Abschnitt und damit auch das Werk insgesamt - niemals ein
anderes Ideal gegeben als das asketische: „Die Sinnlosigkeit des Leidens,
nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet
lag, — und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher
der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn" (GM III 28, KSA 5,
411, 19-23). N. lässt seine Leser mit der Frage allein, wie denn wohl ein neues
Ideal entstehen könnte oder gar zu schaffen wäre.
GM quält mit Fragen, ohne durch Antworten zu beruhigen - obwohl das
Werk offensichtlich nicht nur einen diagnostischen, sondern ebenso einen the-
rapeutischen Horizont hat, also beispielsweise der Herrschaft des asketischen
Ideals als einer moralgeschichtlichen Pandemie den Kampf ansagen und die
Menschheit kurieren (und nicht bloß wie die Priester betäuben) will. Jedenfalls
hat man in GM keinen herkömmlichen Text der Geschichtsschreibung vor Au-
gen, aber vielleicht doch die praktische Antwort auf das Problem, das N. - im
Anschluss an den Bericht über die als unerquicklich empfundene Lektüre der
Werke Ernest Renans zur Frühgeschichte des Christentums - in seinem Brief
an Overbeck vom 23. 02. 1887 formuliert: „Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis
zur Frage, ob Geschichte überhaupt mög1ich ist? Was will man denn feststel-
len? — etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht ,feststand?"'
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 804, S. 28, Z. 37-40) Wäre GM folglich als Versuch zu
verstehen, mittels Polemik und unausgesetzter Leser-Provokation die Feststel-
lung, die Suggestion der Feststellbarkeit zu sabotieren? Jedenfalls handelt es
sich um einen Text, der durch das Hinterfragen die Leser unerbittlich in die
Verantwortung nimmt: Sie sollen gezwungen werden, sich zum Gesagten zu
verhalten. Ein Mittel dazu ist die hochgradige Emotionalisierung, die es den
Lesern schwer macht, sich selbst kritisch zu N.s Äußerungen zu verhalten, so
sehr diese Emotionalisierung auch Denkräume eröffnen kann (vgl. Janaway
2007a, 202-212 u. Aumann 2014): Der Text ist darauf angelegt, die Leser mitzu-
reißen, so dass bei aller darin gebotenen Problematisierung des bisher Gelten-
den und Gewohnten kaum mehr Raum bleibt, zur Problematisierung dieser
Problematisierung fortzuschreiten. Solchen Raum soll freilich der vorliegende
Kommentar schaffen.