26 Zur Genealogie der Moral
men scheint. Diesseits des unverhohlenen Widerspruchs gegen die im Text be-
hauptete sklavenmoralische Grundtendenz der abendländischen Geschichte
deutet sich anscheinend also bei auserwählten Wenigen, denen auch ein em-
phatisch-positiver Begriff von Gewissen als Verantwortlichkeit zu Gebote steht,
womöglich noch eine positive Moralentwicklungsgeschichte an.
Dieser Faden reißt im Gedankengang der Zweiten Abhandlung freilich bald
ab, um zur Frage zurückzukehren, wie man denn überhaupt ein Erinnerungs-
vermögen, ein Gedächtnis bei den frühen Hominini erzeugt habe. Die Antwort
ist nach GM II 3 ebenso einfach wie drastisch: Indem man ihnen Schmerzen
zufügte, in der Religion als Grausamkeitssystem sowie in einer erbarmungslo-
sen Strafgesetzgebung. Aber wie sieht es, will GM II 4 jetzt wissen, mit dem
Schuldbewusstsein, dem „,schlechte[n] Gewissen'" (297, 13) aus, das sich offen-
sichtlich nicht von selbst versteht? Eine Haupthypothese - die heute vom
Anthropologen David Graeber wieder populär gemacht wird (Graeber 2012) -
besagt, dass die Vorstellung moralischer Schuld aus ökonomischer Schuld ent-
standen sei; eine weitere Haupthypothese lautet, dass Strafe zunächst nur Ver-
geltung für einen erlittenen Schaden war, gänzlich ungeachtet der Frage, ob
der Übeltäter Schaden zufügen wollte oder nicht. Dabei habe die Vergeltung
durch Strafe der Einhegung der Rache gedient. GM II 5 vertieft die Überlegun-
gen zum Schuldenmachen: Um sich seiner Rückzahlungspflicht zu entsinnen,
sei der Schuldner gehalten gewesen, Leib und Leben zu verpfänden, an denen
sich die Gläubiger im Falle der Nichtbegleichung hätten ,schadlos' halten dür-
fen. Dabei ist nach GM II 6 das Zufügen von Leiden für den Täter so genuss-
reich, dass es die entgangene Rückzahlung aufwiege. Überhaupt erscheint die
Lust an der Grausamkeit als anthropologische Konstante, die sich die verzärtel-
ten Gegenwartsmenschen nur höchst ungern eingestünden. Diese Lust an der
Grausamkeit soll nach GM II 7 keineswegs in pessimistischer Weise das Leben
verleiden; Welt- und Lebensverneinungsbedürftigkeit gilt vielmehr als Indiz
eines geschichtlichen Niedergangs, für den auch die allgemeine Abnahme der
Schmerztoleranz spreche. Einst hätten die Griechen die Götter als Zuschauer
dieser Grausamkeiten erfunden.
GM II 8 radikalisiert die Überlegungen zum Schuldverhältnis, indem der
Abschnitt es - in Analogie zum Käufer-Verkäufer-Verhältnis gesetzt - für das
ursprünglichste Personenverhältnis ausgibt und konstatiert, „Preise machen,
Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen" (306, 4 f.) sei der Ur-
sprung des Denkens gewesen. In GM II 9 wird die Perspektive gesamtgesell-
schaftlich erweitert: Das Individuum habe zur Gemeinschaft in der Rolle des
Schuldners gestanden und entsprechend dramatische Folgen gewärtigen müs-
sen, falls es dieser Rolle nicht gerecht werde konnte. Es sei ausgestoßen wor-
den. Im Fortgang der Rechtsgeschichte habe sich, so GM II 10, der Umgang mit
men scheint. Diesseits des unverhohlenen Widerspruchs gegen die im Text be-
hauptete sklavenmoralische Grundtendenz der abendländischen Geschichte
deutet sich anscheinend also bei auserwählten Wenigen, denen auch ein em-
phatisch-positiver Begriff von Gewissen als Verantwortlichkeit zu Gebote steht,
womöglich noch eine positive Moralentwicklungsgeschichte an.
Dieser Faden reißt im Gedankengang der Zweiten Abhandlung freilich bald
ab, um zur Frage zurückzukehren, wie man denn überhaupt ein Erinnerungs-
vermögen, ein Gedächtnis bei den frühen Hominini erzeugt habe. Die Antwort
ist nach GM II 3 ebenso einfach wie drastisch: Indem man ihnen Schmerzen
zufügte, in der Religion als Grausamkeitssystem sowie in einer erbarmungslo-
sen Strafgesetzgebung. Aber wie sieht es, will GM II 4 jetzt wissen, mit dem
Schuldbewusstsein, dem „,schlechte[n] Gewissen'" (297, 13) aus, das sich offen-
sichtlich nicht von selbst versteht? Eine Haupthypothese - die heute vom
Anthropologen David Graeber wieder populär gemacht wird (Graeber 2012) -
besagt, dass die Vorstellung moralischer Schuld aus ökonomischer Schuld ent-
standen sei; eine weitere Haupthypothese lautet, dass Strafe zunächst nur Ver-
geltung für einen erlittenen Schaden war, gänzlich ungeachtet der Frage, ob
der Übeltäter Schaden zufügen wollte oder nicht. Dabei habe die Vergeltung
durch Strafe der Einhegung der Rache gedient. GM II 5 vertieft die Überlegun-
gen zum Schuldenmachen: Um sich seiner Rückzahlungspflicht zu entsinnen,
sei der Schuldner gehalten gewesen, Leib und Leben zu verpfänden, an denen
sich die Gläubiger im Falle der Nichtbegleichung hätten ,schadlos' halten dür-
fen. Dabei ist nach GM II 6 das Zufügen von Leiden für den Täter so genuss-
reich, dass es die entgangene Rückzahlung aufwiege. Überhaupt erscheint die
Lust an der Grausamkeit als anthropologische Konstante, die sich die verzärtel-
ten Gegenwartsmenschen nur höchst ungern eingestünden. Diese Lust an der
Grausamkeit soll nach GM II 7 keineswegs in pessimistischer Weise das Leben
verleiden; Welt- und Lebensverneinungsbedürftigkeit gilt vielmehr als Indiz
eines geschichtlichen Niedergangs, für den auch die allgemeine Abnahme der
Schmerztoleranz spreche. Einst hätten die Griechen die Götter als Zuschauer
dieser Grausamkeiten erfunden.
GM II 8 radikalisiert die Überlegungen zum Schuldverhältnis, indem der
Abschnitt es - in Analogie zum Käufer-Verkäufer-Verhältnis gesetzt - für das
ursprünglichste Personenverhältnis ausgibt und konstatiert, „Preise machen,
Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen" (306, 4 f.) sei der Ur-
sprung des Denkens gewesen. In GM II 9 wird die Perspektive gesamtgesell-
schaftlich erweitert: Das Individuum habe zur Gemeinschaft in der Rolle des
Schuldners gestanden und entsprechend dramatische Folgen gewärtigen müs-
sen, falls es dieser Rolle nicht gerecht werde konnte. Es sei ausgestoßen wor-
den. Im Fortgang der Rechtsgeschichte habe sich, so GM II 10, der Umgang mit