28 Zur Genealogie der Moral
Ahnen als Schuldverhältnis interpretiert, verdanke man ihnen doch schlechter-
dings alles: So habe man sie zu gefürchteten Göttern transformiert. GM II 20
betritt mit dem Römischen Reich und dem Christentum einen historisch kon-
kreteren Boden: Sklaven hätten die Götter der Herren adoptiert und schließlich
Götter erdacht, denen gegenüber man die Schulden nie zurückzahlen könne.
Der christliche Gott stelle in dieser Hinsicht das Extrem dar - mit ihm hätten
sich die Schuldgefühle ins Unermessliche gesteigert. Mit seinem Wegsterben
könnten sich vielleicht auch diese Schuldgefühle erledigen. Dagegen freilich
spricht nach GM II 21 die gegenläufige Tendenz der Moralisierung, die sich
auch beim Niedergang des religiösen Christentums behauptet, ja sogar emi-
nent verstärkt habe: Das Leben erscheine nun als unauflösbar schuldbehaftet;
das schlechte Gewissen werde universell.
In GM II 22 wird eine Synthese der Triebumleitungshypothese und der Ah-
nen- und Gottschuldigkeitshypothese angestrebt: Der nach außen Gehemmte
habe sich nun innerlich vollständig als Sünder zu zerfetzen begonnen. „Eine
Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug." (332, 9 f.)
Das habe die Welt in eine Irrenanstalt verwandelt, von der sich das sprechende
„Ich" mit Grausen abwendet, bevor es in GM II 23 die Griechen lobt, die das
schlechte Gewissen vermieden hätten. GM II 24 kehrt in die Gegenwart zurück
und fragt, ob hier denn ein Ideal errichtet oder zerstört werde, wobei das eine
nicht ohne das andere zu gehen scheint. Ein Künftiger - nach GM II 25 kein
anderer als Zarathustra - werde sich dieser Aufgabe annehmen.
Die Dritte Abhandlung verfolgt in der Ausführung stringent, was ihr Titel an-
kündigt, nämlich zu eruieren, was „asketische Ideale" „bedeuten" (339, 2), und
zwar für unterschiedliche Menschengruppen. In gewisser Weise treibt diese
Abhandlung jene Selbsterkenntnis des „Wir" voran, das sich laut Vorrede
selbst noch unbekannt ist. In GM III legt das „Wir" darüber Rechenschaft ab,
was asketische Ideale für Philosophen, Künstler und Wissenschaftler bedeu-
ten, und kommt zu dem Schluss, dass sie immer noch von dem alten Streben
nach Wahrheit und Erkenntnis um jeden Preis beseelt seien. GM III kann ver-
standen werden als jene Selbstaufklärung, die die Vorrede noch ins Ungefähre
stellt.
GM III 1 gibt auf die Frage, was asketische Ideale bedeuten, bereits einen
aphoristisch verknappten Antwortabriss, den die folgenden Abschnitte dann
ausbreiten und erörtern. Diese Erörterung setzt in GM III 2 mit einem konkreten
Fall aus der Gruppe der Künstler ein, nämlich mit Richard Wagner, der gegen
Ende seines Lebens entgegen früherer Sinnenfreundlichkeit das Lob der
Keuschheit angestimmt und asketische Ideale verehrt habe. Als Beleg für diese
Wendung, namentlich für Wagners Kniefall vor dem Christentum, führt der
Ahnen als Schuldverhältnis interpretiert, verdanke man ihnen doch schlechter-
dings alles: So habe man sie zu gefürchteten Göttern transformiert. GM II 20
betritt mit dem Römischen Reich und dem Christentum einen historisch kon-
kreteren Boden: Sklaven hätten die Götter der Herren adoptiert und schließlich
Götter erdacht, denen gegenüber man die Schulden nie zurückzahlen könne.
Der christliche Gott stelle in dieser Hinsicht das Extrem dar - mit ihm hätten
sich die Schuldgefühle ins Unermessliche gesteigert. Mit seinem Wegsterben
könnten sich vielleicht auch diese Schuldgefühle erledigen. Dagegen freilich
spricht nach GM II 21 die gegenläufige Tendenz der Moralisierung, die sich
auch beim Niedergang des religiösen Christentums behauptet, ja sogar emi-
nent verstärkt habe: Das Leben erscheine nun als unauflösbar schuldbehaftet;
das schlechte Gewissen werde universell.
In GM II 22 wird eine Synthese der Triebumleitungshypothese und der Ah-
nen- und Gottschuldigkeitshypothese angestrebt: Der nach außen Gehemmte
habe sich nun innerlich vollständig als Sünder zu zerfetzen begonnen. „Eine
Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug." (332, 9 f.)
Das habe die Welt in eine Irrenanstalt verwandelt, von der sich das sprechende
„Ich" mit Grausen abwendet, bevor es in GM II 23 die Griechen lobt, die das
schlechte Gewissen vermieden hätten. GM II 24 kehrt in die Gegenwart zurück
und fragt, ob hier denn ein Ideal errichtet oder zerstört werde, wobei das eine
nicht ohne das andere zu gehen scheint. Ein Künftiger - nach GM II 25 kein
anderer als Zarathustra - werde sich dieser Aufgabe annehmen.
Die Dritte Abhandlung verfolgt in der Ausführung stringent, was ihr Titel an-
kündigt, nämlich zu eruieren, was „asketische Ideale" „bedeuten" (339, 2), und
zwar für unterschiedliche Menschengruppen. In gewisser Weise treibt diese
Abhandlung jene Selbsterkenntnis des „Wir" voran, das sich laut Vorrede
selbst noch unbekannt ist. In GM III legt das „Wir" darüber Rechenschaft ab,
was asketische Ideale für Philosophen, Künstler und Wissenschaftler bedeu-
ten, und kommt zu dem Schluss, dass sie immer noch von dem alten Streben
nach Wahrheit und Erkenntnis um jeden Preis beseelt seien. GM III kann ver-
standen werden als jene Selbstaufklärung, die die Vorrede noch ins Ungefähre
stellt.
GM III 1 gibt auf die Frage, was asketische Ideale bedeuten, bereits einen
aphoristisch verknappten Antwortabriss, den die folgenden Abschnitte dann
ausbreiten und erörtern. Diese Erörterung setzt in GM III 2 mit einem konkreten
Fall aus der Gruppe der Künstler ein, nämlich mit Richard Wagner, der gegen
Ende seines Lebens entgegen früherer Sinnenfreundlichkeit das Lob der
Keuschheit angestimmt und asketische Ideale verehrt habe. Als Beleg für diese
Wendung, namentlich für Wagners Kniefall vor dem Christentum, führt der