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30 Zur Genealogie der Moral

Ideal gerade zupasskam, weil der asketische Typus längst eingeführt war. Als
Radikalopponenten zu allem Geltenden waren sie entsprechend gefährdet. Das
bietet die Gelegenheit, die fundamentalen Wertungsdifferenzen zwischen grie-
chischer Antike und einer von menschlicher Selbstentgrenzung bestimmten
Gegenwart zu thematisieren, ohne dass das sprechende „Ich" prinzipiell gegen
die Moderne Partei nähme. GM III 10 wiederum kehrt zurück zum Selbstschutz-
bedürfnis der kontemplativen Menschen in der Frühzeit, die sich zu diesem
Behuf den Habitus asketischer Priester zugelegt hätten. Es stellt sich die Frage,
ob sie diesen Habitus inzwischen wieder abgelegt haben.
Diese Reflexion gibt die Vorlage zu den Überlegungen des elften Ab-
schnitts, der nun erstmals den „asketischen Priester" in näheren Augenschein
nimmt, der eine universelle Erscheinung sei und nicht aussterbe, obwohl er
sich doch negativ zum Leben verhalte. Offensichtlich wirke in ihm ein „Interes-
se des Lebens selbst" (363, 6), obwohl sich das „Wir" im Namen des Lebens
gerade gegen den Priester und seine Ideale in Stellung bringt. Beginne solch
ein asketischer Priester zu philosophieren, so werte er, wie GM III 12 skizziert,
das Leibliche zugunsten eines rein Geistigen und Jenseitigen ab, was immerhin
eine bemerkenswerte Selbstzucht und Selbstüberwindung mit sich bringe und
Ausweis des Vermögens sei, seine Vorstellungen in den Griff zu bekommen.
Darin sind die Priester durchaus Vorgänger ,gegenwärtiger' Philosophen, die
sich nach N.s Maßgabe in Perspektivenvervielfältigung üben, ohne sich aller-
dings in Leib- und Affektverachtung zu ergehen.
Nach GM III 13 ist es das niedergehende Leben selbst, das mittels des aske-
tischen Ideals gegen seine Selbstauslöschung kämpfe, sich also nicht wirklich
vernichten, sondern auf niedrigem Niveau selbst erhalten wolle. Entsprechend
gehöre der asketische Priester „zu den ganz grossen conservirenden und
Ja-schaffenden Gewalten des Lebens" (366, 32-34). Der Mensch erscheint
dabei als nicht festgestelltes, mutiges und zugleich krankes Tier, dem die Zivili-
sierung als Zähmung schlecht bekommen ist. Entgegen diesem globalen Krank-
haftigkeitsverdacht gegenüber dem gezähmten Menschen behauptet der vier-
zehnte Abschnitt einen fundamentalen Unterschied zwischen Gesunden und
Kranken, wobei erstere vor der Berührung und Begegnung mit Schwachen ge-
schützt werden müssten, da sie sonst durch Ekel und Mitleid selbst angesteckt
würden. Mit der Stärke der Gesunden ist es offenbar nicht sehr weit her, wenn
sie so wenig Resilienz besitzen. Nach GM III 15 sollen es die selbst kranken,
aber von Machtwillen beseelten Priester sein, die sich hegend und pflegend
um die Kranken zu kümmern hätten. Ihre Strategie sei es allerdings, die Krank-
heit zu verewigen, indem sie das Ressentiment, das sich zunächst gegen die
Starken richtet, umlenkten, und zwar auf die leidenden Subjekte selbst, die
sich fortan für ihr eigenes Leiden verantwortlich machten. Im folgenden Ab-
 
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