32 Zur Genealogie der Moral
zu lassen. Ein ähnliches Bild zeichnet GM III 26 von der Geschichtswissen-
schaft, die gleichfalls - wenn auch auf andere Weise als die Naturwissenschaf-
ten und die Philosophie - im Banne asketischer Ideale geblieben sei. Der vor-
letzte Abschnitt 27 lässt keinen Zweifel daran, dass bislang dem asketischen
Ideal in der geistigen Sphäre keine wirkliche Gegnerschaft erwachsen sei, von
den „Komödianten dieses Ideals" (409, 6) einmal abgesehen. Die im asketi-
schen Ideal wurzelnde unerbittliche Wahrhaftigkeit habe allerdings zur Ab-
schaffung des Gottesglaubens geführt - das Christentum als Glaubenslehre sei
an seiner „Moral" zugrunde gegangen; nun müsse es auch „als Moral" (410,
19) zugrunde gehen. Der „Wille zur Wahrheit" (410, 25) befinde sich in
einem Prozess der Selbstaufhebung. GM III 28, mit dem Zur Genealogie der
Moral endet, reformuliert schließlich die Frage, wie das „Thier Mensch" (411,
5) sich Antworten auf die Frage nach seinem eigenen Sinn und dem Sinn seines
Leidens zurechtgelegt habe. Diese Antworten seien bisher stets nur auf das
asketische Ideal hinausgelaufen, das den Menschen für die „Perspektive der
Schuld" (411, 30) eingenommen habe. Zugleich habe der Mensch am Willen
festgehalten - freilich an einem „Willen zum Nichts" (412, llf.). Eigene
Sinnantworten verweigert die Sprecherinstanz am Ende von GM. Das Werk for-
muliert kein Gegenideal.
6 Stellenwert von Zur Genealogie der Moral in N.s Schaffen
Nimmt man N.s wiederholte Beteuerungen ernst, GM sei, wie es auf der Rück-
seite des Titelblattes der Erstausgabe heißt, JGB „zur Ergänzung und Verdeutli-
chung beigegeben" (Nietzsche 1887a, [II]), so fragt sich, wie man dieses Ergän-
zungs- und Verdeutlichungsverhältnis verstehen soll. N.s Adept und Korrektur-
helfer Heinrich Köselitz hat sich um eine Erklärung bemüht, jedoch nur bei
GM I einen konkreten Bezug hergestellt: „Die erste Abhandlung der Genealogie
enthält eine umfassende Darstellung der vorher im ,Jenseits' Aph. 260 skizzir-
ten Theorie der Herren- und Sklaven- Moral, mit deutlichen Anticipationen aus
dem ,Antichrist' gegen den Schluss hin. (Der Gedanke der Herren- und Skla-
ven-Moral taucht erstmals in ,Menschliches, Allzumenschliches' I, Aph. 45
auf.) / Die zweite Abhandlung ist berühmt geworden durch eine Anzahl miss-
verständlicher Angriffe, deren heftigster gegen Seite 382 gerichtet war. / Die
dritte Abhandlung ist als Vorbereitung und Ergänzung unerlässlich zum Ver-
ständniss des Capitels ,Der europäische Nihilismus' in der ,Umwerthung aller
Werthe'" (Peter Gast: Nachbericht, in: GoA 7 [1921], III). Abgesehen davon, dass
N. das fragliche „Capitel" nie veröffentlicht hat - gemeint ist die Nachlass-
Aufzeichnung KGW IX 3, N VII 3, 13-24 (vgl. NL 1887, KSA 12, 5[71], 211-217) -
zu lassen. Ein ähnliches Bild zeichnet GM III 26 von der Geschichtswissen-
schaft, die gleichfalls - wenn auch auf andere Weise als die Naturwissenschaf-
ten und die Philosophie - im Banne asketischer Ideale geblieben sei. Der vor-
letzte Abschnitt 27 lässt keinen Zweifel daran, dass bislang dem asketischen
Ideal in der geistigen Sphäre keine wirkliche Gegnerschaft erwachsen sei, von
den „Komödianten dieses Ideals" (409, 6) einmal abgesehen. Die im asketi-
schen Ideal wurzelnde unerbittliche Wahrhaftigkeit habe allerdings zur Ab-
schaffung des Gottesglaubens geführt - das Christentum als Glaubenslehre sei
an seiner „Moral" zugrunde gegangen; nun müsse es auch „als Moral" (410,
19) zugrunde gehen. Der „Wille zur Wahrheit" (410, 25) befinde sich in
einem Prozess der Selbstaufhebung. GM III 28, mit dem Zur Genealogie der
Moral endet, reformuliert schließlich die Frage, wie das „Thier Mensch" (411,
5) sich Antworten auf die Frage nach seinem eigenen Sinn und dem Sinn seines
Leidens zurechtgelegt habe. Diese Antworten seien bisher stets nur auf das
asketische Ideal hinausgelaufen, das den Menschen für die „Perspektive der
Schuld" (411, 30) eingenommen habe. Zugleich habe der Mensch am Willen
festgehalten - freilich an einem „Willen zum Nichts" (412, llf.). Eigene
Sinnantworten verweigert die Sprecherinstanz am Ende von GM. Das Werk for-
muliert kein Gegenideal.
6 Stellenwert von Zur Genealogie der Moral in N.s Schaffen
Nimmt man N.s wiederholte Beteuerungen ernst, GM sei, wie es auf der Rück-
seite des Titelblattes der Erstausgabe heißt, JGB „zur Ergänzung und Verdeutli-
chung beigegeben" (Nietzsche 1887a, [II]), so fragt sich, wie man dieses Ergän-
zungs- und Verdeutlichungsverhältnis verstehen soll. N.s Adept und Korrektur-
helfer Heinrich Köselitz hat sich um eine Erklärung bemüht, jedoch nur bei
GM I einen konkreten Bezug hergestellt: „Die erste Abhandlung der Genealogie
enthält eine umfassende Darstellung der vorher im ,Jenseits' Aph. 260 skizzir-
ten Theorie der Herren- und Sklaven- Moral, mit deutlichen Anticipationen aus
dem ,Antichrist' gegen den Schluss hin. (Der Gedanke der Herren- und Skla-
ven-Moral taucht erstmals in ,Menschliches, Allzumenschliches' I, Aph. 45
auf.) / Die zweite Abhandlung ist berühmt geworden durch eine Anzahl miss-
verständlicher Angriffe, deren heftigster gegen Seite 382 gerichtet war. / Die
dritte Abhandlung ist als Vorbereitung und Ergänzung unerlässlich zum Ver-
ständniss des Capitels ,Der europäische Nihilismus' in der ,Umwerthung aller
Werthe'" (Peter Gast: Nachbericht, in: GoA 7 [1921], III). Abgesehen davon, dass
N. das fragliche „Capitel" nie veröffentlicht hat - gemeint ist die Nachlass-
Aufzeichnung KGW IX 3, N VII 3, 13-24 (vgl. NL 1887, KSA 12, 5[71], 211-217) -