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34 Zur Genealogie der Moral

,wissenschaftliche Hypothesen' zugeschrieben, an denen man sich dann abar-
beiten, zu denen man sich zustimmend oder ablehnend positionieren kann.
Dass sich die Sprecherinstanzen auch in GM ins Wort fallen, wird dabei ebenso
großzügig ausgeblendet wie die Widerständigkeit und Nichtsystematisierbar-
keit dieser „Streitschrift" mit ihrem festlegungsverweigernden Stil, so dass
man geneigt sein könnte, wesentliche Teile der N.-Forschung für ebenso pseu-
dowissenschaftlich zu halten wie GM selbst (der wissenschaftliche Anschein
von GM, der immer wieder konterkariert wird, veranlasst Inkpin 2018, das
Werk insgesamt als Parodie auf wissenschaftliche Schreibpraktiken zu verste-
hen). Denn tatsächlich erweist sich N. auch als Autor von GM so, wie er Lauren-
ce Sterne beschreibt (wobei das diesem Urteil zugrundeliegende Buch in N.s
Bibliothek gar nicht, wie Claus Zittel nachgewiesen hat, von Sterne stammt),
nämlich als „der grosse Meister der Zweideutigkeit" (MA II VM 113, KSA 2,
424, 28 f.), als Meister der Irritation.
Selbst wenn sämtliche Annahmen zur Entwicklungsgeschichte des morali-
schen Empfindens und moralischen Urteilens in GM falsch sein sollten, eröff-
net dieses experimentalphilosophische Werk dem philosophischen Nachden-
ken doch vielfach neue Aussichten. Es lehrt, die Moral selbst kritisch zu per-
spektivieren. Das von N. praktizierte philosophische Verfahren der radikalen
historischen Relativierung kann auch im 21. Jahrhundert noch immer als rich-
tungsweisend gelten, so schwer sich akademische Philosophie damit auch tun
mag. GM stellt die vermeintlichen moralischen Selbstverständlichkeiten radi-
kal in Frage - sowohl die Vorstellung, es gebe etwas von Natur aus moralisch
Gutes, als auch diejenige, es gebe einen moralischen Fortschritt.

7 Zur Wirkungsgeschichte
Wer sich in der Wirkungsgeschichte von GM umsieht, könnte geneigt sein, zu
jener These seine Zuflucht zu nehmen, mit der N.s Freund Franz Overbeck 1880
seine „zwei Abhandlungen" Zur Geschichte des Kanons einleitete: „Es liegt im
Wesen aller Kanonisation ihre Objecte unkenntlich zu machen, und so kann
man denn auch von allen Schriften unseres neuen Testamentes sagen, dass sie
im Augenblick ihrer Kanonisirung aufgehört haben verstanden zu werden."
(Overbeck 1880, 1 = Overbeck 1994b, 2, 391) Tatsächlich hat die Kanonisierung
von GM erst spät eingesetzt, da die „Streitschrift" von den frühen Rezipienten
als das angesehen wurde, als was N. sie konzipiert hatte, nämlich als Verdeutli-
chungsergänzung zu JGB. Das hat zwar niemanden davon abgehalten, provo-
kante Stichworte wie die des „Ressentiments" oder der „blonden Bestie" aus
GM in den allgemeinen N.-Diskurs einzuspeisen, aber als Gesamtwerk hat GM
 
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