Überblickskommentar 41
späten N. ziemlich exklusiv auf Fragen der Moralherkunft fokussierte Begriff
„Genealogie" von dieser Anbindung und wird auf alles anwendbar - auf
Macht, Sport, Sex...
Nach Ausweis der Weimarer Nietzsche-Bibliographie hat man sich mit GM
als Werk und nicht bloß als Stichwortverzeichnis erst in den Siebziger Jahren
auf breiter Basis zu beschäftigen begonnen. Seither nimmt die Fülle der GM-
spezifischen Forschungsbeiträge von Jahr zu Jahr gewaltig zu. Bemerkenswert
ist vor allem, dass das Schwergewicht der Beschäftigung mit GM sich von
Frankreich in den anglophonen Raum verschoben hat, wo die Schrift nun fast
unbestritten als N.s Hauptwerk gilt. GM hat gerade in jüngerer Zeit eine große
Zahl von Gesamt- und Einzelinterpretationen hervorgerufen, die oft genug die
unmissverständliche Lektüreanweisung N.s in der Erstausgabe (die in vielen
modernen Ausgaben einschließlich KSA 5 stillschweigend eliminiert wird)
schlicht ignorieren, wonach das Buch ,,[d]em letztveröffentlichten ,Jenseits
von Gut und Böse' zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben" (Nietz-
sche 1887a, [II]) sei. GM lässt sich scheinbar leichter handhaben als die soge-
nannten aphoristischen Werke (MA, M, FW, insbesondere auch als JGB), lässt
sich scheinbar leicht in andere Sprachen übersetzen und in gegenwärtige mo-
ralphilosophische oder metaethische Debatten einspeisen. Das Werk scheint
Thesen und Theorien zu proponieren, für oder gegen die man Partei ergreifen
kann, wobei bei diesen Parteinahmen oft genug elementare Leseregeln igno-
riert werden (vgl. zur okkupatorischen Praxis solcher N.-,Interpretationen'
Stern 2018). Trotz der Schrillheit dieser Thesen und Theorien wähnt man in GM
einen handzahmen, instrumentalisierbaren N. vorzufinden, der sich sowohl
poststrukturalistischen als auch postanalytischen ,Annäherungen' gefügig
zeigt.
Das gilt beispielsweise für das von Leiter 2002 populär gemachte Gespenst
von N.s Naturalismus (dazu schon NK KSA 5, 29, 5-16), das sich besonders in
GM herumtreiben soll (vgl. moderat kritisch gegen Leiter z. B. Wolf 2003, scharf
profiliert Heit 2016a; historische Tiefenschärfe erhält das Problem bei Emden
2014, während Sedgwick 2016 N.s angeblichen Naturalismus als „hyperbo-
lisch" verstanden wissen will). Leiter wendet sich gegen die „postmodernen"
Interpretationen und macht geltend, dass Nietzsche sehr wohl feste Überzeu-
gungen gehabt habe, die er unter dem Stichwort Naturalismus zusammenfasst.
Wenn dieser Begriff bedeutet, dass man auf übersinnliche Erklärungsweisen
verzichtet und auch den Geist für etwas Natürliches hält, ist er freilich trivial.
Dass N. sich mit den Naturwissenschaften seiner Zeit ebenso intensiv beschäf-
tigt wie mit den Geisteswissenschaften, liegt auf der Hand; ebenso, dass das
von ihm adaptierte evolutionäre Denken nicht nur ein „naturalistisches", son-
dern ebenso sehr ein historisches Denken ist: Die Welt, wie sie ist und wie sie
späten N. ziemlich exklusiv auf Fragen der Moralherkunft fokussierte Begriff
„Genealogie" von dieser Anbindung und wird auf alles anwendbar - auf
Macht, Sport, Sex...
Nach Ausweis der Weimarer Nietzsche-Bibliographie hat man sich mit GM
als Werk und nicht bloß als Stichwortverzeichnis erst in den Siebziger Jahren
auf breiter Basis zu beschäftigen begonnen. Seither nimmt die Fülle der GM-
spezifischen Forschungsbeiträge von Jahr zu Jahr gewaltig zu. Bemerkenswert
ist vor allem, dass das Schwergewicht der Beschäftigung mit GM sich von
Frankreich in den anglophonen Raum verschoben hat, wo die Schrift nun fast
unbestritten als N.s Hauptwerk gilt. GM hat gerade in jüngerer Zeit eine große
Zahl von Gesamt- und Einzelinterpretationen hervorgerufen, die oft genug die
unmissverständliche Lektüreanweisung N.s in der Erstausgabe (die in vielen
modernen Ausgaben einschließlich KSA 5 stillschweigend eliminiert wird)
schlicht ignorieren, wonach das Buch ,,[d]em letztveröffentlichten ,Jenseits
von Gut und Böse' zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben" (Nietz-
sche 1887a, [II]) sei. GM lässt sich scheinbar leichter handhaben als die soge-
nannten aphoristischen Werke (MA, M, FW, insbesondere auch als JGB), lässt
sich scheinbar leicht in andere Sprachen übersetzen und in gegenwärtige mo-
ralphilosophische oder metaethische Debatten einspeisen. Das Werk scheint
Thesen und Theorien zu proponieren, für oder gegen die man Partei ergreifen
kann, wobei bei diesen Parteinahmen oft genug elementare Leseregeln igno-
riert werden (vgl. zur okkupatorischen Praxis solcher N.-,Interpretationen'
Stern 2018). Trotz der Schrillheit dieser Thesen und Theorien wähnt man in GM
einen handzahmen, instrumentalisierbaren N. vorzufinden, der sich sowohl
poststrukturalistischen als auch postanalytischen ,Annäherungen' gefügig
zeigt.
Das gilt beispielsweise für das von Leiter 2002 populär gemachte Gespenst
von N.s Naturalismus (dazu schon NK KSA 5, 29, 5-16), das sich besonders in
GM herumtreiben soll (vgl. moderat kritisch gegen Leiter z. B. Wolf 2003, scharf
profiliert Heit 2016a; historische Tiefenschärfe erhält das Problem bei Emden
2014, während Sedgwick 2016 N.s angeblichen Naturalismus als „hyperbo-
lisch" verstanden wissen will). Leiter wendet sich gegen die „postmodernen"
Interpretationen und macht geltend, dass Nietzsche sehr wohl feste Überzeu-
gungen gehabt habe, die er unter dem Stichwort Naturalismus zusammenfasst.
Wenn dieser Begriff bedeutet, dass man auf übersinnliche Erklärungsweisen
verzichtet und auch den Geist für etwas Natürliches hält, ist er freilich trivial.
Dass N. sich mit den Naturwissenschaften seiner Zeit ebenso intensiv beschäf-
tigt wie mit den Geisteswissenschaften, liegt auf der Hand; ebenso, dass das
von ihm adaptierte evolutionäre Denken nicht nur ein „naturalistisches", son-
dern ebenso sehr ein historisches Denken ist: Die Welt, wie sie ist und wie sie