50 Zur Genealogie der Moral
von Mitte Juli 1887 spricht er ausdrücklich von seiner „genealogischen Notiz" -
KSB 8/KGB III 5, Nr. 875, S. 109, Z. 2 -, benutzt also ein sonst von ihm selten
gebrauchtes Adjektiv. Die Pointe seiner Recherchen ist es denn auch, dass sich
in seiner Familiengeschichte die Dinge gar nicht so zugetragen haben, wie man
in Weimar zu glauben schien, vgl. N. an Overbeck, 17. 07. 1887, KSB 8/KGB III 5,
Nr. 876, S. 110 f., Z. 30-41. N. nutzt das familiengeschichtliche Detail der Wei-
marer Verbindung seines Großonkels und Weimarer Generalsuperintendenten
Johann Friedrich Krause mit Herder und Goethe, das ihm dabei bekannt wird,
fortan wiederholt zur genealogischen Selbstlegitimierung, siehe Rahden
2005a.)
GM heißt nicht Die Genealogie der Moral, sondern Zur Genealogie der Mo-
ral. Die Präposition scheint zunächst Bescheidenheit anzuzeigen, will der Au-
tor doch augenscheinlich nicht den Anspruch erheben, die Genealogie der Mo-
ral insgesamt zu erschließen - was anmaßend wäre, denn es scheint unmög-
lich, von irgendetwas eine vollständige Genealogie zu entfalten, da jedes
erschlossene Glied auf weitere Glieder zurückverweist, die sich im Grau der
Vergangenheit verlieren (vgl. GM Vorrede 7, KSA 5, 254, 17-22). Tatsächlich lie-
fert GM in der Druckfassung nur drei Abhandlungen zu Themen der Moral,
ohne dabei die Moral im Ganzen - die eben nicht auf einen Ursprung zurückge-
führt werden kann - genealogisch erschlossen zu haben. Ansonsten hätte N.
nicht noch weitere Abhandlungen und Fortsetzungen zu GM planen können.
Im späteren Nachlass gibt es dann parallel auch Aufzeichnungen „Zur Genea-
logie des Christenthums" (KGW IX 6, W II 1, 47, 21 = NL 1887, KSA 12, 9[122]
(80a), 407), die verschiedene Elemente ohne Vollständigkeitsanspruch versam-
meln. „Zur Genealogie" weist nicht nur auf die Unabgeschlossenheit des eige-
nen Unternehmens hin, sondern auch darauf, dass andere Forscher, die GM
teilweise nennt, dazu ebenfalls Beiträge geliefert haben. So gelesen, kokettiert
der Titel von GM ironisch mit gelehrter Bescheidenheit; seiner allerersten phi-
lologischen Publikation hatte N. 1867 den Titel Zur Geschichte der Theognidei-
schen Spruchsammlung gegeben. Diese ironische Gelehrsamkeitsmimikry im
Haupttitel von GM kontrastiert scharf mit dem Untertitel Eine Streitschrift (245,
2). Schließlich eröffnet die präpositionale Wendung auch eine Zukunftsper-
spektive: Die Genealogie der Moral ist noch ausstehend; entsprechend insinu-
iert der Titel auch eine Wendung hin zur Genealogie der Moral. Diesem Konno-
tationsspektrum in der Übersetzung gerecht zu werden, ist entsprechend
schwierig (siehe Thatcher 1989, 598 f.).
Auffällig ist schließlich, dass N. weder im Titel des Werks noch sonst ir-
gendwo im Gesamttext von GM „Moral" in den Plural setzt, obwohl er dies
beispielsweise in JGB ganz selbstverständlich tut (vgl. NK KSA 5, 106, 12). Die
„Moral", von der in GM als Singularetantum gehandelt wird, ist das Set von
von Mitte Juli 1887 spricht er ausdrücklich von seiner „genealogischen Notiz" -
KSB 8/KGB III 5, Nr. 875, S. 109, Z. 2 -, benutzt also ein sonst von ihm selten
gebrauchtes Adjektiv. Die Pointe seiner Recherchen ist es denn auch, dass sich
in seiner Familiengeschichte die Dinge gar nicht so zugetragen haben, wie man
in Weimar zu glauben schien, vgl. N. an Overbeck, 17. 07. 1887, KSB 8/KGB III 5,
Nr. 876, S. 110 f., Z. 30-41. N. nutzt das familiengeschichtliche Detail der Wei-
marer Verbindung seines Großonkels und Weimarer Generalsuperintendenten
Johann Friedrich Krause mit Herder und Goethe, das ihm dabei bekannt wird,
fortan wiederholt zur genealogischen Selbstlegitimierung, siehe Rahden
2005a.)
GM heißt nicht Die Genealogie der Moral, sondern Zur Genealogie der Mo-
ral. Die Präposition scheint zunächst Bescheidenheit anzuzeigen, will der Au-
tor doch augenscheinlich nicht den Anspruch erheben, die Genealogie der Mo-
ral insgesamt zu erschließen - was anmaßend wäre, denn es scheint unmög-
lich, von irgendetwas eine vollständige Genealogie zu entfalten, da jedes
erschlossene Glied auf weitere Glieder zurückverweist, die sich im Grau der
Vergangenheit verlieren (vgl. GM Vorrede 7, KSA 5, 254, 17-22). Tatsächlich lie-
fert GM in der Druckfassung nur drei Abhandlungen zu Themen der Moral,
ohne dabei die Moral im Ganzen - die eben nicht auf einen Ursprung zurückge-
führt werden kann - genealogisch erschlossen zu haben. Ansonsten hätte N.
nicht noch weitere Abhandlungen und Fortsetzungen zu GM planen können.
Im späteren Nachlass gibt es dann parallel auch Aufzeichnungen „Zur Genea-
logie des Christenthums" (KGW IX 6, W II 1, 47, 21 = NL 1887, KSA 12, 9[122]
(80a), 407), die verschiedene Elemente ohne Vollständigkeitsanspruch versam-
meln. „Zur Genealogie" weist nicht nur auf die Unabgeschlossenheit des eige-
nen Unternehmens hin, sondern auch darauf, dass andere Forscher, die GM
teilweise nennt, dazu ebenfalls Beiträge geliefert haben. So gelesen, kokettiert
der Titel von GM ironisch mit gelehrter Bescheidenheit; seiner allerersten phi-
lologischen Publikation hatte N. 1867 den Titel Zur Geschichte der Theognidei-
schen Spruchsammlung gegeben. Diese ironische Gelehrsamkeitsmimikry im
Haupttitel von GM kontrastiert scharf mit dem Untertitel Eine Streitschrift (245,
2). Schließlich eröffnet die präpositionale Wendung auch eine Zukunftsper-
spektive: Die Genealogie der Moral ist noch ausstehend; entsprechend insinu-
iert der Titel auch eine Wendung hin zur Genealogie der Moral. Diesem Konno-
tationsspektrum in der Übersetzung gerecht zu werden, ist entsprechend
schwierig (siehe Thatcher 1989, 598 f.).
Auffällig ist schließlich, dass N. weder im Titel des Werks noch sonst ir-
gendwo im Gesamttext von GM „Moral" in den Plural setzt, obwohl er dies
beispielsweise in JGB ganz selbstverständlich tut (vgl. NK KSA 5, 106, 12). Die
„Moral", von der in GM als Singularetantum gehandelt wird, ist das Set von