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Stellenkommentar GM Vorrede 1, KSA 5, S. 247 57

ihre Wurzeln schon in Äußerungen wie JGB 161, wo die Dichter dafür kritisiert
werden, dass sie ihre Erlebnisse schamlos ausbeuteten (vgl. NK KSA 5, 101,
2 f.). Sich selbst verordnet N. zur Entstehungszeit von GM im Brief an Overbeck
vom 30. 08. 1887 völlige Erlebnisabstinenz, während 247, llf. Erlebnisdesinte-
resse mimt: „ich muß mich absolut auf mich zurückziehn und abwarten, bis
ich die letzte Frucht von meinem Baume schütteln darf. Keine Erlebnisse;
nichts von außen her" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 900, S. 140, Z. 63-65). Die Wen-
dung gegen die Autorität persönlicher (Außenwelt-)Erlebnisse ist in N.s Schrif-
ten allerdings keine stabile Position. GM III 6, KSA 5, 347, 3 macht es gerade
zum Argument gegen die herkömmliche philosophische Ästhetik, dass ihren
Repräsentanten die „Fülle eigenster starker Erlebnisse" fehle. Nach GM III 16,
KSA 5, 377, 1-3 kennzeichnet es einen starken Menschen, seine Erlebnisse wie
Mahlzeiten verdauen zu können. Zu Beginn von FW Vorrede 1 steht eine em-
phatische Berufung auf „Erlebnisse", die das gesamte Werk FW als Produkt
eines schöpferischen Erlebnisses - der angeblichen Genesung - darstellt, das
nur von Lesern verstanden werden kann, die selber „Aehnliches" erlebt haben
(KSA 3, 345, 4-7, vgl. schon das „Erlebnisse"-Motto zur Erstausgabe FW 1882
in KSA 3, 343). In KGW IX 5, W I 8, 125, 2 heißt es in einer Vorarbeit zur Vorrede
der Neuausgabe von MA: „Meine Schriften reden nur von meinen eigenen
Erlebnissen" (vgl. NL 1886/87, KSA 12, 6[4], 232, 10-13: „Meine Schriften reden
nur von meinen eignen Erlebnissen — glücklicherweise habe ich Viel erlebt —:
ich bin darin, mit Leib und Seele — wozu es verhehlen?, ego ipsissimus, und
wenn es hoch kommt, ego ipsissimum.") Gerade die GM Vorrede 1 entgegen-
gesetzte Berufung auf „Erlebnisse" zur Beglaubigung und Absicherung eigener
Weltdeutungsansprüche ist in N.s Texten also durchaus eine gängige Stra-
tegie.
247, 15-17 Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die
Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in's Ohr gedröhnt
hat] Die Vision des „große[n] Mittag[s]", den Zarathustra in seiner aller-
letzten Rede am Ende des Vierten Theils anruft (Za IV Das Zeichen, KSA 4, 408,
19 f.), unterscheidet sich doch markant von jenem Mittag, den das „Wir" von
GM Vorrede 1 beinahe verpasst hätte. Dieser kommt ohne panische Aufladung
aus und indiziert bloß das Ende eines arbeitsamen Morgens, der Ruhe und
damit Rückblick erlaubt. Zur Metapher der Glocken(schläge) in GM Vorrede
und darüber hinaus Conway 2008a.
247, 24-248, 1 Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht,
wir müssen uns verwechseln] Der Beginn von GM Vorrede 1 trägt den Gedan-
ken, „wir" seien uns „unbekannt", noch im Indikativ eines Faktenbefundes
vor, und der Fortgang des Absatzes könnte den Eindruck erwecken, die als
 
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