60 Zur Genealogie der Moral
teil als Arbeitsprogramm ausgegeben zu werden, so dass man die Frage nach
dem Selbst der Erkennenden getrost zurückstellen könnte. Das eigentliche
Problem ist aber, dass diese Erkennenden von ihrem Untersuchungsgegen-
stand, der Moral, kontaminiert sind, weswegen die Frage nach der Moraler-
kenntnis immer auch eine Frage der Selbsterkenntnis darstellt.
248, If. „Jeder ist sich selbst der Fernste"] Die Sentenz, die sich bereits in
FW 335, KSA 3, 560, 18 f. findet (dort „selber" statt „selbst"), ist die Inversion
eines Ausspruchs aus Publius Terentius Afer: Andria IV 1, 12: „Proxumus sum
egomet mihi" („Der Nächste bin ich mir selbst". In N.s Bibliothek hat sich keine
Terenz-Ausgabe erhalten). Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Phra-
se „Jeder ist sich selbst der Nächste" eine verbreitete Redensart (vgl. Adelung
1793-1801, 3, 414 und ausführlich Düringsfeld 1863, 2, 41-46), die vor allem
das biblische Gebot der Nächstenliebe konterkarierte, indem sie ihm den Egois-
mus des Menschen gegenüberstellte. Wenn die von N. umgedrehte Sentenz
„Jeder ist sich selbst der Fernste" zutrifft, ließe sich der Ratschlag von Za I Von
der Nächstenliebe, KSA 4, 77, 11-13 zur „Fernsten-Liebe" („Höher als die Liebe
zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen") vermeintlich als
Aufforderung zur Selbstliebe, zur Selbstaffirmation verstehen. Genauer be-
trachtet hat man es aber auch in Za I Von der Nächstenliebe mit einer Inver-
sions-Figur zu tun: Zarathustra entlarvt Egoismus und Selbstflucht als die ei-
gentlichen Triebkräfte der Nächstenliebe („ich durchschaue euer ,Selbstloses"',
KSA 4, 77, 6 f.) und spricht sich deshalb in Umkehrung für die Fernstenliebe
aus.
Die erkennenden „Wir" in GM Vorrede 1 sind noch nicht fest-, sondern in
die Zukunft gestellt. Zum Spruch 248, If. siehe auch Mieder 2014 sowie Thomä
2007, der ihn zum Ausgangspunkt einer Untersuchung über das Verhältnis von
Identität und Moralität bei N. und Emerson nimmt (vgl. auch Cavell 1989, 25 u.
Campioni 2014, Fn. 4). In asketisch-christlicher Tradition ist übrigens der Ge-
danke der Selbstferne schon programmatisch vorformuliert, beispielsweise bei
Kierkegaard 1886, 25 f.: „0, wenn es Weisheit ist, daß Jeder sich selbst der
Nächste ist, wie man nur allzu leicht meint, dann wäre Christi /26/ Leben Thor-
heit; denn sein Leben ist so sehr Aufopferung, daß es war, als wäre er nur
jedem Andern der nächste, aber sich selbst der fernste."
2.
Während GM Vorrede 1 der Selbstvergewisserung des „Wir" dient, deren Pointe
es ist, dass sich dieses „Wir" gerade nicht selber erkennen kann, spricht in
GM Vorrede 2 zunächst ein „Ich", das sich dann in ein „Wir" einreiht (248,
teil als Arbeitsprogramm ausgegeben zu werden, so dass man die Frage nach
dem Selbst der Erkennenden getrost zurückstellen könnte. Das eigentliche
Problem ist aber, dass diese Erkennenden von ihrem Untersuchungsgegen-
stand, der Moral, kontaminiert sind, weswegen die Frage nach der Moraler-
kenntnis immer auch eine Frage der Selbsterkenntnis darstellt.
248, If. „Jeder ist sich selbst der Fernste"] Die Sentenz, die sich bereits in
FW 335, KSA 3, 560, 18 f. findet (dort „selber" statt „selbst"), ist die Inversion
eines Ausspruchs aus Publius Terentius Afer: Andria IV 1, 12: „Proxumus sum
egomet mihi" („Der Nächste bin ich mir selbst". In N.s Bibliothek hat sich keine
Terenz-Ausgabe erhalten). Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Phra-
se „Jeder ist sich selbst der Nächste" eine verbreitete Redensart (vgl. Adelung
1793-1801, 3, 414 und ausführlich Düringsfeld 1863, 2, 41-46), die vor allem
das biblische Gebot der Nächstenliebe konterkarierte, indem sie ihm den Egois-
mus des Menschen gegenüberstellte. Wenn die von N. umgedrehte Sentenz
„Jeder ist sich selbst der Fernste" zutrifft, ließe sich der Ratschlag von Za I Von
der Nächstenliebe, KSA 4, 77, 11-13 zur „Fernsten-Liebe" („Höher als die Liebe
zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen") vermeintlich als
Aufforderung zur Selbstliebe, zur Selbstaffirmation verstehen. Genauer be-
trachtet hat man es aber auch in Za I Von der Nächstenliebe mit einer Inver-
sions-Figur zu tun: Zarathustra entlarvt Egoismus und Selbstflucht als die ei-
gentlichen Triebkräfte der Nächstenliebe („ich durchschaue euer ,Selbstloses"',
KSA 4, 77, 6 f.) und spricht sich deshalb in Umkehrung für die Fernstenliebe
aus.
Die erkennenden „Wir" in GM Vorrede 1 sind noch nicht fest-, sondern in
die Zukunft gestellt. Zum Spruch 248, If. siehe auch Mieder 2014 sowie Thomä
2007, der ihn zum Ausgangspunkt einer Untersuchung über das Verhältnis von
Identität und Moralität bei N. und Emerson nimmt (vgl. auch Cavell 1989, 25 u.
Campioni 2014, Fn. 4). In asketisch-christlicher Tradition ist übrigens der Ge-
danke der Selbstferne schon programmatisch vorformuliert, beispielsweise bei
Kierkegaard 1886, 25 f.: „0, wenn es Weisheit ist, daß Jeder sich selbst der
Nächste ist, wie man nur allzu leicht meint, dann wäre Christi /26/ Leben Thor-
heit; denn sein Leben ist so sehr Aufopferung, daß es war, als wäre er nur
jedem Andern der nächste, aber sich selbst der fernste."
2.
Während GM Vorrede 1 der Selbstvergewisserung des „Wir" dient, deren Pointe
es ist, dass sich dieses „Wir" gerade nicht selber erkennen kann, spricht in
GM Vorrede 2 zunächst ein „Ich", das sich dann in ein „Wir" einreiht (248,