64 Zur Genealogie der Moral
danken, unsre[r] Werthe" zu assoziieren. Die Engführung der Baummetapher
und des Erkenntniswillens (248, 26) lässt die Leser an den paradiesischen
Baum der Erkenntnis (1. Mose 2, 9) denken sowie an Matthäus 7, 16-20: „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den
Dornen, oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringet
gute Früchte; aber ein fauler Baum bringet arge Früchte. Ein guter Baum kann
nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte brin-
gen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringet, wird abgehauen und
ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." (Die Bi-
bel: Neues Testament 1818, 10) In GM II 2, KSA 5, 293, 20 f. gilt dann „das
souveraine Individuum" als „reifste Frucht" der moralgeschichtlichen
Entwicklung, vgl. NK ÜK GM II 2. Zur Frucht- und Reifemetaphorik in N.s
Selbstbeschreibungen vgl. Large 2014, Abschnitt 42 u. Fn. 39. Die stolze Bekun-
dung in 249, 2-4, es gehe die Bäume nichts an, wenn ihre Früchte nicht schme-
cken, ist die Kontrafaktur zum alten Sprichwort „Ein Baum trägt sich selbst
keine Früchte" (Wander 1867-1880, 1, 276) bzw. „Kein Baum trägt sich selber
Aepfel" (ebd., 279). KSA 14, 377 bringt zu 249, 2-4 eine Anekdote aus dem
vierten Kapitel von Heinrich Heines Die Bäder von Lucca als mögliche Quelle
ins Gespräch: „Als ich einst an einem schönen Frühlingstage unter den Berli-
ner Linden spazieren ging, wandelten vor mir zwei Frauenzimmer, die lange
schwiegen, bis endlich die Eine schmachtend aufseufzte: Ach, die jrine Beeme!
Worauf die Andre, ein junges Ding, mit naiver Verwunderung fragte: Mutter,
was gehn Ihnen die jrine Beeme an?" (Heine 1861c, 2, 188).
3.
Standen in GM Vorrede 2 noch autogenealogische Aspekte im Vordergrund, die
ein aufmerksamer Leser von N.s Schriften sich womöglich selbst hätte erschlie-
ßen können, taucht GM Vorrede 3 in die arkane, unpublizierte Vorgeschichte
der Sprecherinstanz ein, die jetzt auf die jugendlichen philosophischen Anfän-
ge zu sprechen kommt. Diese Anfänge entzündeten sich zunächst an der theo-
logischen Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen, um sich
später dann zu säkularisieren und die Menschen selbst für ihr Gut und Böse,
ihre Wertebildung verantwortlich zu machen.
249, 14 f. welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe] Es han-
delt sich um die klassische Frage der Theodizee, des Versuchs der Rechtferti-
gung Gottes angesichts der Übel: „unde malum", fragt schon Tertullian in De
praescriptione haereticorum 7. In GM werden Ursprung und Herkunft terminolo-
gisch nicht getrennt, vgl. NK 248, 5 f.
danken, unsre[r] Werthe" zu assoziieren. Die Engführung der Baummetapher
und des Erkenntniswillens (248, 26) lässt die Leser an den paradiesischen
Baum der Erkenntnis (1. Mose 2, 9) denken sowie an Matthäus 7, 16-20: „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den
Dornen, oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringet
gute Früchte; aber ein fauler Baum bringet arge Früchte. Ein guter Baum kann
nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte brin-
gen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringet, wird abgehauen und
ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." (Die Bi-
bel: Neues Testament 1818, 10) In GM II 2, KSA 5, 293, 20 f. gilt dann „das
souveraine Individuum" als „reifste Frucht" der moralgeschichtlichen
Entwicklung, vgl. NK ÜK GM II 2. Zur Frucht- und Reifemetaphorik in N.s
Selbstbeschreibungen vgl. Large 2014, Abschnitt 42 u. Fn. 39. Die stolze Bekun-
dung in 249, 2-4, es gehe die Bäume nichts an, wenn ihre Früchte nicht schme-
cken, ist die Kontrafaktur zum alten Sprichwort „Ein Baum trägt sich selbst
keine Früchte" (Wander 1867-1880, 1, 276) bzw. „Kein Baum trägt sich selber
Aepfel" (ebd., 279). KSA 14, 377 bringt zu 249, 2-4 eine Anekdote aus dem
vierten Kapitel von Heinrich Heines Die Bäder von Lucca als mögliche Quelle
ins Gespräch: „Als ich einst an einem schönen Frühlingstage unter den Berli-
ner Linden spazieren ging, wandelten vor mir zwei Frauenzimmer, die lange
schwiegen, bis endlich die Eine schmachtend aufseufzte: Ach, die jrine Beeme!
Worauf die Andre, ein junges Ding, mit naiver Verwunderung fragte: Mutter,
was gehn Ihnen die jrine Beeme an?" (Heine 1861c, 2, 188).
3.
Standen in GM Vorrede 2 noch autogenealogische Aspekte im Vordergrund, die
ein aufmerksamer Leser von N.s Schriften sich womöglich selbst hätte erschlie-
ßen können, taucht GM Vorrede 3 in die arkane, unpublizierte Vorgeschichte
der Sprecherinstanz ein, die jetzt auf die jugendlichen philosophischen Anfän-
ge zu sprechen kommt. Diese Anfänge entzündeten sich zunächst an der theo-
logischen Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen, um sich
später dann zu säkularisieren und die Menschen selbst für ihr Gut und Böse,
ihre Wertebildung verantwortlich zu machen.
249, 14 f. welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe] Es han-
delt sich um die klassische Frage der Theodizee, des Versuchs der Rechtferti-
gung Gottes angesichts der Übel: „unde malum", fragt schon Tertullian in De
praescriptione haereticorum 7. In GM werden Ursprung und Herkunft terminolo-
gisch nicht getrennt, vgl. NK 248, 5 f.