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66 Zur Genealogie der Moral

lässt der Text offen. Die einzige inhaltlich mit dem rückblickend Behaupteten
konvergierende Aufzeichnung des jugendlichen N. findet sich in NL 1858/59,
KGW I 2, 5[16], 18, 20 f.: „Gott nicht gut nicht böse/erhaben über menschliche
Begriffe." Zu den verschiedenen Vorstufen und N.s religiöser Emanzipation als
Jugendlicher siehe Figl 1984, 53; Montinari 1982, 35-37; Schmidt 2001, 107-109
u. Figl 2007, 330. Ausdrücklich sieht GM Vorrede 3 die Innovation des jugendli-
chen N. nicht darin, Gott zum Vater des Guten und des Bösen, sondern aus-
schließlich des Bösen erklärt zu haben. Himmelmann 2019 macht darauf auf-
merksam, dass, sobald man diese Hypothese des jugendlichen N. und die spä-
tere Diagnose vom Tode Gottes zusammenbringe, mit Gottes Sterben auch das
Böse verschwinden müsse - damit also die sklavenmoralische Grundunter-
scheidung von Gut und Böse, von der in GM I als Gegenerfindung zu den fun-
damental anders gelagerten, aristokratischen Werturteilen Gut und Schlecht
gleich die Rede sein wird.
Bemerkenswert ist, dass Goethe am Ende des Achten Buches von Dichtung
und Wahrheit von sich als jugendlichem Studenten unter dem Eindruck von
Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie (dazu Sommer 2002a) berichtet
und dabei auf ganz ähnliche Spekulationen zu sprechen kommt: „Ich mochte
mir wohl eine Gottheit vorstellen, die sich /167/ von Ewigkeit her selbst produ-
cirt; da sich aber Production nicht ohne Mannichfaltigkeit denken läßt, so
mußte sie sich nothwendig sogleich als ein Zweites erscheinen, welches wir
unter dem Namen des Sohns anerkennen; diese beiden mußten nun den Act
des Hervorbringens fortsetzen, und erschienen sich selbst wieder im dritten,
welches nun ebenso bestehend lebendig und ewig als das Ganze war. Hiermit
war jedoch der Kreis der Gottheit geschlossen, und es wäre ihnen selbst nicht
möglich gewesen, abermals ein ihnen völlig Gleiches hervorzubringen. Da je-
doch der Productionstrieb immer fortging, so erschufen sie ein viertes, das aber
schon in sich einen Widerspruch hegte, indem es, wie sie, unbedingt und doch
zugleich in ihnen enthalten und durch sie begrenzt sein sollte. Dieses war nun
Lucifer, welchem von nun an die ganze Schöpfungskraft übertragen war, und
von dem alles übrige Sein ausgehen sollte." (Goethe 1853-1858, 21, 166 f. Ob-
wohl N. diese Ausgabe von Goethes Sämmtlichen Werken besaß, hat sich doch
der fragliche Band 21 mit dem zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit unter
seinen Büchern nicht erhalten.) Zwar fällt Luzifer auch in dieser gnostischen
Kosmologie von Gott ab, bleibt jedoch ins Schöpfungsgeschehen eingewoben,
für das Gott, wie im Rückblick von GM Vorrede 3 betont, die eigentliche Verant-
wortung übernehmen müsste. Auch der schließlich geschaffene Mensch be-
fand sich „abermals in dem Falle Lucifers [...], zugleich unbedingt und be-
schränkt zu sein, und da dieser Widerspruch durch alle Kategorien des Da-
seyns sich an ihm manifestiren und ein vollkommenes Bewußtseyn sowie ein
 
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