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Stellenkommentar GM I 2, KSA 5, S. 258 95

tion der Motivationsgrundlage der „englischen Psychologen" diese gerade
nicht von niederen Beweggründen, der „partie honteuse unsrer inneren Welt"
(257, 12) in ihrem forschenden Handeln bestimmt werden, sondern von viel
edleren Motiven. Dies jedoch würde deren eigene Theorie über die ausnahms-
los niedere Bedingtheit menschlichen Tuns falsifizieren - durch eine Praxis,
die nicht vom Unbewussten bedingt wird.
258, 19 Denn es giebt solche Wahrheiten. —] Ob man wie Wolf 2004, 33-35 aus
dem Schlusssatz von GM I 1 eine ambitionierte Wahrheitstheorie deduzieren
kann, der zufolge es von unseren Wünschen und unserem Erkennen unabhän-
gige Wahrheiten gibt, ist zumindest diskussionsbedürftig. Der Indikativ des
Satzes scheint zwar zu indizieren, dass das sprechende „Ich" sich zu diesem
Satz bekennt und nicht bloß die Auffassung der „Forscher" wiedergibt. In
GM III 24, KSA 5, 398-401 wird demgegenüber jedoch der Glaube der Wissen-
schaft an die Wahrheit als Spätwirkung des asketischen Ideals problematisiert,
während hier in 258, 19 nichts darüber gesagt wird, worin denn diese „Wahr-
heiten" (im Plural!) konkret bestehen, außer dem im vorangegangenen Satz
Gesagten, gipfelnd im Prädikat, „unmoralisch" zu sein. Welchen epistemologi-
schen und ontologischen Status diese „Wahrheiten" haben, wird verschwie-
gen - womöglich sind sie einfach nur die fiktionale Motivationsgrundlage für
den asketischen Forscherdrang jener englischen Psychologen, denen der erste
Teil von GM I 1 noch probeweise eine dezidierte Verkleinerungsabsicht unter-
stellt hat, während jetzt der zweite Teil die Möglichkeit einer redlicheren Moti-
vation erwägt.

2.
In GM I 2 werden diejenigen, die in GM I 1 als „englische Psychologen" gelten,
als „Historiker der Moral" in jene verwandelt, die im Altruismus, im Unegoisti-
schen das Gute finden. Die Frage der Nützlichkeit spielte in GM I 1 noch keine
Rolle, wohl aber die „vis inertiae" (257, 16) der Gewohnheit und Vergesslichkeit
und die geheimen „partie[s] honteuse[s]" (256, 12), an denen die „englischen
Psychologen" die Moralherkünfte dingfest machen wollten. GM I 2 verschiebt
also den thematischen Schwerpunkt, was mit der Orientierung an einer ande-
ren Hauptquelle (nämlich Ree 1877 statt Höffding 1887) zusammenhängt.
258, 21-27 Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern
der Moral walten mögen! Aber gewiss ist leider, dass ihnen der historische
Geist selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst
in Stich gelassen worden sind! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter
 
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