102 Zur Genealogie der Moral
sam, wonach ursprünglich unegoistische Handlungen als nützlich empfunden
und daher für „gut" gehalten worden seien, welchen Ursprung man jedoch
seither vergessen habe. Wie könnte man dies vergessen haben, so wird gefragt,
wenn doch „die Alltagserfahrung" (260, 31) die Nützlichkeit jederzeit neu be-
glaubigt und damit ins Gedächtnis gebrannt hätte? Für das Vergessen des Ur-
sprungs gäbe es also keine plausible Erklärung, so dass die beispielsweise von
Herbert Spencer vorgetragene (utilitaristische) Theorie, die das Gute und das
Nützliche einfach identifiziert, annehmbarer erscheine. Jedoch wird auch diese
„Erklärung" als „falsch" (261, 14) zurückgewiesen.
261, 3-16 Um wie viel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist des-
halb nicht wahrer —), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird:
der den Begriff „gut" als wesensgleich mit dem Begriff „nützlich", „zweckmässig"
ansetzt, so dass in den Urtheilen „gut" und „schlecht" die Menschheit gerade
ihre unvergessnen und unvergessbaren Erfahrungen über nützlich-
zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig aufsummirt und sanktionirt habe.
Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit
darf es als „werthvoll im höchsten Grade", als „werthvoll an sich" Geltung be-
haupten.] N. hat sich intensiv mit Herbert Spencers Thatsachen der Ethik von
1879 beschäftigt (vgl. z. B. NK KSA 5, 74, 3-8; NK KSA 5, 74, 8-12; NK KSA 6,
139, 2-4 sowie Fornari 2009, 93-171), er nahm ausweislich seiner Lesespuren
aber auch die von William Henry Rolph 1884 formulierte, vernichtende Kritik
an Spencers altruistischer Position zustimmend zur Kenntnis, vgl. NK KSA 6,
133, 23-25. Die in Anführungszeichen gesetzten Wendungen lassen sich in den
von N. benutzten Spencer-Übersetzungen nicht nachweisen (gerade der Begriff
der Zweckmäßigkeit fehlt dort). Es scheint, als sei die Überlegung in GM I 3
angelehnt an Passagen wie Rolph 1884, 41 f.: ,„Gut und schlecht, fährt Spen-
cer ([...]) fort, sind Begriffe, die keinen Sinn haben äusser in Beziehung auf
das Bedürfniss, oder besser auf die an eine Sache gestellten Ansprüche. [...]
Ein guter Schlag ist ein solcher, der das Ziel entsprechend den Absichten des
Schlagenden trifft. Hiernach beruht also der Begriff des Guten auf der Zweck-
mässigkeit eines Dinges, eines Vorganges, einer Handlung, oder mit anderen
Worten auf der möglichsten Anpassung des /42/ Mittels an den Zweck. Das
Gute also wird geschehen durch möglichste Vervollkommnung des Mittels,
durch grössere Zweckmässigkeit der Action. [...] Gut und Schlecht stellen sich
demnach bei Spencer heraus als gleichbedeutend mit dem, was oben als
Vollkommenheit oder Mangelhaftigkeit der Lebensführung bezeichnet wurde.
Gute Handlungen würden also sein Handlungen der Selbsterhaltung, der Er-
haltung der Nachkommenschaft und der Erhaltung der Gesellschaft"' (N.s Un-
terstreichungen; mehrere Randstriche von seiner Hand). Vgl. auch Fonari 2009,
151f., Fn. 155, ferner Schneider [1880], 80 (wonach die „angenehmste Vorstel-
sam, wonach ursprünglich unegoistische Handlungen als nützlich empfunden
und daher für „gut" gehalten worden seien, welchen Ursprung man jedoch
seither vergessen habe. Wie könnte man dies vergessen haben, so wird gefragt,
wenn doch „die Alltagserfahrung" (260, 31) die Nützlichkeit jederzeit neu be-
glaubigt und damit ins Gedächtnis gebrannt hätte? Für das Vergessen des Ur-
sprungs gäbe es also keine plausible Erklärung, so dass die beispielsweise von
Herbert Spencer vorgetragene (utilitaristische) Theorie, die das Gute und das
Nützliche einfach identifiziert, annehmbarer erscheine. Jedoch wird auch diese
„Erklärung" als „falsch" (261, 14) zurückgewiesen.
261, 3-16 Um wie viel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist des-
halb nicht wahrer —), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird:
der den Begriff „gut" als wesensgleich mit dem Begriff „nützlich", „zweckmässig"
ansetzt, so dass in den Urtheilen „gut" und „schlecht" die Menschheit gerade
ihre unvergessnen und unvergessbaren Erfahrungen über nützlich-
zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig aufsummirt und sanktionirt habe.
Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit
darf es als „werthvoll im höchsten Grade", als „werthvoll an sich" Geltung be-
haupten.] N. hat sich intensiv mit Herbert Spencers Thatsachen der Ethik von
1879 beschäftigt (vgl. z. B. NK KSA 5, 74, 3-8; NK KSA 5, 74, 8-12; NK KSA 6,
139, 2-4 sowie Fornari 2009, 93-171), er nahm ausweislich seiner Lesespuren
aber auch die von William Henry Rolph 1884 formulierte, vernichtende Kritik
an Spencers altruistischer Position zustimmend zur Kenntnis, vgl. NK KSA 6,
133, 23-25. Die in Anführungszeichen gesetzten Wendungen lassen sich in den
von N. benutzten Spencer-Übersetzungen nicht nachweisen (gerade der Begriff
der Zweckmäßigkeit fehlt dort). Es scheint, als sei die Überlegung in GM I 3
angelehnt an Passagen wie Rolph 1884, 41 f.: ,„Gut und schlecht, fährt Spen-
cer ([...]) fort, sind Begriffe, die keinen Sinn haben äusser in Beziehung auf
das Bedürfniss, oder besser auf die an eine Sache gestellten Ansprüche. [...]
Ein guter Schlag ist ein solcher, der das Ziel entsprechend den Absichten des
Schlagenden trifft. Hiernach beruht also der Begriff des Guten auf der Zweck-
mässigkeit eines Dinges, eines Vorganges, einer Handlung, oder mit anderen
Worten auf der möglichsten Anpassung des /42/ Mittels an den Zweck. Das
Gute also wird geschehen durch möglichste Vervollkommnung des Mittels,
durch grössere Zweckmässigkeit der Action. [...] Gut und Schlecht stellen sich
demnach bei Spencer heraus als gleichbedeutend mit dem, was oben als
Vollkommenheit oder Mangelhaftigkeit der Lebensführung bezeichnet wurde.
Gute Handlungen würden also sein Handlungen der Selbsterhaltung, der Er-
haltung der Nachkommenschaft und der Erhaltung der Gesellschaft"' (N.s Un-
terstreichungen; mehrere Randstriche von seiner Hand). Vgl. auch Fonari 2009,
151f., Fn. 155, ferner Schneider [1880], 80 (wonach die „angenehmste Vorstel-