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130 Zur Genealogie der Moral

nach einer unio mystica - sei es mit Gott, sei es mit dem Nichts - es ist Ein
Verlangen -", wurde dann jedoch von N. gestrichen (GSA 71/27,1, fol. 9r).
Zur Begriffsgeschichte der „unio mystica", der „mystischen Einheit" siehe NK
KSA 5, 71, 2-4; auch Deussen verwendet ihn, vgl. NK 381, 9-14. Ausdrücklich
unter Berufung auf Braids Hypnotismus-Forschungen (vgl. NK 265, 31-266, 1)
merkt Harald Höffding in seiner von N. sehr gründlich studierten Psychologie
in Umrissen an: „Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen einzigen Gedan-
ken wirkt auf eine dem Aufgehen in einem Sinnesreiz entsprechende Weise.
Der Mystiker sucht sich in die Gottheit, die ihm eine absolute Einheit ist,
zu versenken und mit derselben zu vereinigen; deshalb bestrebt er sich, alle
wechselnden Vorstellungen fernzuhalten, und je mehr ihm dieses gelingt, um
so mehr nähert er sich der Ekstase, einem Zustand, der als über alles Bewusst-
sein erhaben geschildert wird. Um diesen Zweck zu erreichen, benutzten übri-
gens die Mystiker oft den Hypnotismus als Mittel" (Höffding 1887, 57; der erste
Satz von N. mit einem, der letzte Satz mit zwei Randstrichen versehen).
Ob das buddhistische Nirvana mit dem Nichts gleichzusetzen sei, wird in
der von N. rezipierten Literatur eifrig diskutiert, vgl. Oldenberg 1881, 271-276
(ferner [Salome] 1885, 201 = Salome 2007, 171 u. NK KSA 6, 187, 31-188, 2).
Oldenberg resümiert: „Und nicht minder überraschend war es mir, als in jener
Alternative, die so zwingend wie möglich gestellt schien, dass nämlich das
Nirvana in der alten Gemeinde entweder als das Nichts oder als eine höchste
Seligkeit verstanden worden sein muss, doch schliesslich weder die eine noch
die andre Seite vollkommen Recht behielt." (Oldenberg 1881, 276) An religions-
wissenschaftlichen Feindifferenzierungen ist freilich weder dem Sprecher in
GM I 6 noch dem in GM III 17, KSA 5, 382, 6 f. gelegen, wo die Gleichsetzung
von Gott und Nichts allen „pessimistischen Religionen" zugeschrieben wird.
Während Oldenberg um die passende Terminologie ringt und eine Nichts-Ein-
deutigkeit des Nirvana verneint, unterstellt GM in polemischer Absicht den
„Priestern" einen eineindeutigen Weltvernichtungswillen, der alles Sein ver-
neine - egal, ob sie von mystischer Einheit oder Nirvana reden. Stellen wie
266, 1-4 veranlassen Panäioti 2015 N. mit seiner angeblich strikten Ethik der
Lebensbejahung in systematischer Fundamentalopposition zum Buddhismus
zu sehen, ohne freilich die strategischen Motivationen von N.s Bezugnahmen
auf Buddha und Buddhismus in Rechnung zu stellen.
266, 5-15 Bei den Priestern wird eben Alles gefährlicher, nicht nur Kurmittel
und Heilkünste, sondern auch Hochmuth, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Lie-
be, Herrschsucht, Tugend, Krankheit; — mit einiger Billigkeit liesse sich aller-
dings auch hinzufügen, dass erst auf dem Boden dieser wesentlich gefähr-
lichen Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt
ein interessantes Thier geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele
in einem höheren Sinne Tiefe bekommen hat und böse geworden ist — und das
 
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