132 Zur Genealogie der Moral
in die Gegenwart bestimmend geblieben sein soll, stellt selbst eine praktizierte
Umwertung dar: Wurden die Priester im vorangegangenen Abschnitt I 6 zu-
nächst - wenigstens in gewissen Gesellschaften - als ursprünglich mächtig, ja
dominant dargestellt, wenngleich zu einer als krankhaft verdächtigten Weltab-
kehr und Selbstbeschäftigung neigend, so stehen sie in I 7 plötzlich nicht nur
in Konkurrenz zur „Kriegerkaste", sondern sollen überhaupt „die ohnmäch-
tigsten" (266, 32) sein. Worin diese ihre Ohnmacht liegt, wird freilich nicht
erläutert (reicht physische Unterlegenheit gegenüber brachialen Kriegerkraft-
protzen für Ohnmacht aus, wenn man doch schlauer ist?). Und auch wenn die
Ohnmachtsdiagnose zuträfe, ist nicht klar, weshalb daraus „Hass" (267, 1) und
„Rache" (267, 4) folgen sollen. Denn nach GM I 6 haben sich die Priester ja
ohne äußeren Zwang in die asketische Isolation begeben, weshalb sie über ihre
weltliche Ohnmacht keineswegs lamentieren, sondern eher darüber froh sein
müssten.
Der allgemeine, historisch vage bleibende Antagonismus von „Priesterkas-
te" und „Kriegerkaste" mündet dann im zweiten Drittel des Textes in ein kon-
kretes „Beispiel", nämlich der Juden, die insgesamt als „priesterliches Volk"
erscheinen, ohne dass gesagt würde, was bei ihnen mit der „Kriegerkaste" ge-
schehen ist. Der religionshistorischen Literatur seiner Zeit konnte N. sehr wohl
entnehmen, dass das Rachebedürfnis angesichts der politischen Depotenzie-
rung im (Spät-)Judentum stark verwurzelt gewesen sei, aber auch, dass sich
dieses vornehmlich gegen die äußeren Feinde, die Besatzer und Kolonisatoren
gerichtet hatte. Das „Beispiel" taugt also nicht zur Illustration des „Priesterkas-
te“/„Kriegerkaste"-Gegensatzes, sondern ist ein offensichtlicher Sonderfall der
Rache- und Hass-Empfindungen gegenüber anderen Völkern in der Situation
politisch-militärischer Unterlegenheit. Das Bindeglied ist die Unterstellung, es
seien hier wie dort „Priester" am Werk (während in der von N. benutzten For-
schungsliteratur zum antiken Judentum das Rachebedürfnis mit der propheti-
schen und apokalyptischen Literatur assoziiert ist, die sich gerade gegen die
etablierte und traditionalistische Priesterelite auflehnt). Der Sonderfall des Ju-
dentums hat freilich im Christentum weltgeschichtliche Wirkung entfaltet.
Als letztes Element in der (quellenumwerterischen) Denunziationskaskade
kommt in GM I 7 noch die aus JGB 195 entlehnte Idee eines „Sklavenauf-
stand[s] in der Moral" (268, 2) hinzu, die suggeriert, es seien nicht (nur)
Priester, sondern auch Sklaven gewesen, die im Juden- und Christentum mo-
ralprägend wurden. Damit scheint die aus diesem Aufstand hervorgegangene
Moral gänzlich delegitimiert.
Die These, dass im Judentum die Sklavenmoral aufgekommen sei, die sich
im Christentum fortgesetzt habe, transformiert antisemitische Stereotypen vom
„knechtischen", verderblich nachwirkenden Charakter der jüdischen Religion,
in die Gegenwart bestimmend geblieben sein soll, stellt selbst eine praktizierte
Umwertung dar: Wurden die Priester im vorangegangenen Abschnitt I 6 zu-
nächst - wenigstens in gewissen Gesellschaften - als ursprünglich mächtig, ja
dominant dargestellt, wenngleich zu einer als krankhaft verdächtigten Weltab-
kehr und Selbstbeschäftigung neigend, so stehen sie in I 7 plötzlich nicht nur
in Konkurrenz zur „Kriegerkaste", sondern sollen überhaupt „die ohnmäch-
tigsten" (266, 32) sein. Worin diese ihre Ohnmacht liegt, wird freilich nicht
erläutert (reicht physische Unterlegenheit gegenüber brachialen Kriegerkraft-
protzen für Ohnmacht aus, wenn man doch schlauer ist?). Und auch wenn die
Ohnmachtsdiagnose zuträfe, ist nicht klar, weshalb daraus „Hass" (267, 1) und
„Rache" (267, 4) folgen sollen. Denn nach GM I 6 haben sich die Priester ja
ohne äußeren Zwang in die asketische Isolation begeben, weshalb sie über ihre
weltliche Ohnmacht keineswegs lamentieren, sondern eher darüber froh sein
müssten.
Der allgemeine, historisch vage bleibende Antagonismus von „Priesterkas-
te" und „Kriegerkaste" mündet dann im zweiten Drittel des Textes in ein kon-
kretes „Beispiel", nämlich der Juden, die insgesamt als „priesterliches Volk"
erscheinen, ohne dass gesagt würde, was bei ihnen mit der „Kriegerkaste" ge-
schehen ist. Der religionshistorischen Literatur seiner Zeit konnte N. sehr wohl
entnehmen, dass das Rachebedürfnis angesichts der politischen Depotenzie-
rung im (Spät-)Judentum stark verwurzelt gewesen sei, aber auch, dass sich
dieses vornehmlich gegen die äußeren Feinde, die Besatzer und Kolonisatoren
gerichtet hatte. Das „Beispiel" taugt also nicht zur Illustration des „Priesterkas-
te“/„Kriegerkaste"-Gegensatzes, sondern ist ein offensichtlicher Sonderfall der
Rache- und Hass-Empfindungen gegenüber anderen Völkern in der Situation
politisch-militärischer Unterlegenheit. Das Bindeglied ist die Unterstellung, es
seien hier wie dort „Priester" am Werk (während in der von N. benutzten For-
schungsliteratur zum antiken Judentum das Rachebedürfnis mit der propheti-
schen und apokalyptischen Literatur assoziiert ist, die sich gerade gegen die
etablierte und traditionalistische Priesterelite auflehnt). Der Sonderfall des Ju-
dentums hat freilich im Christentum weltgeschichtliche Wirkung entfaltet.
Als letztes Element in der (quellenumwerterischen) Denunziationskaskade
kommt in GM I 7 noch die aus JGB 195 entlehnte Idee eines „Sklavenauf-
stand[s] in der Moral" (268, 2) hinzu, die suggeriert, es seien nicht (nur)
Priester, sondern auch Sklaven gewesen, die im Juden- und Christentum mo-
ralprägend wurden. Damit scheint die aus diesem Aufstand hervorgegangene
Moral gänzlich delegitimiert.
Die These, dass im Judentum die Sklavenmoral aufgekommen sei, die sich
im Christentum fortgesetzt habe, transformiert antisemitische Stereotypen vom
„knechtischen", verderblich nachwirkenden Charakter der jüdischen Religion,