150 Zur Genealogie der Moral
Der Beginn von GM I 10 hat zu vielen kontroversen Interpretationsanstren-
gungen Anlass gegeben. Poellner 2011, 138 hält es für unplausibel, dass, wie N.
behaupte, einige moralische Werte erst durch Ressentiment geschaffen worden
seien, vielmehr sei Ressentiment ein bloß sekundäres, parasitäres Phänomen.
GM I 10 beschreibe N. Ressentiment als negativen Affekt, den das davon betrof-
fene Individuum nicht als solchen zugebe, sondern vielmehr als moralische
Rechtschaffenheit interpretiere (Poellner 2009, 166), während N. selbst diesen
Zustand des Ressentiments als höchst unattraktiv charakterisiere (ebd., 168)
und ihn für eine Reihe disparater moralischer Phänomene verantwortlich ma-
che (Poellner 2011, 122). Solomon 1994, 104 meint demgegenüber, N. hege
„mixed feelings about resentment", weil er ja zu Beginn von GM I 10 gerade
seine schöpferische Potenz betone und es ja namentlich mit „Klugheit" (siehe
273, 1-4) gepaart sei. Auch wendet sich Solomon mit Dühring gegen N.s angeb-
liche Weigerung, anzuerkennen, dass Ressentiment ein wesentlicher Bestand-
teil unseres Gerechtigkeitsempfindens sei: Nur wenn wir in der Lage seien,
Unterdrückung und Ungerechtigkeit auch zu empfinden, d. h. uns ihrer zu er-
innern, sie zu ,ressentieren', könnten wir überhaupt eine mächtige Quelle von
menschlicher Energie und Vitalität erschließen; entsprechend sei N.s einseitige
Verurteilung des Ressentiment nicht statthaft (Solomon 1994, 112, vgl. Sommer
2017e. Elgat 2017 versucht demgegenüber, die verschiedenen Ressentimentbe-
griffe bei N. aufzufächern). Chaudhri 2016 fragt im Anschluss an und in Ab-
grenzung von Prinz 2016, wie denn das Ressentiment überhaupt auf lange
Sicht überlebensfähig habe bleiben können und stellt ungelöste Probleme in
GM beim Zusammenspiel von Historie und Psychologie fest. Bittner 1994, 128-
130 betont mit GM I 10 die notwendige Reaktivität des Ressentiments, sein An-
gewiesen-Sein auf ein Außen, ein Zweites, an dem man sich abarbeiten, gegen
das man arbeiten kann, stellt aber zugleich fest, dass das Imaginäre der Rache
der Ressentimentgepeinigten nicht wirkliche Rache sei: „they cannot actually
compensate themselves with a revenge they themselves consider imaginary
[...]. Finally, slaves capable of fabricating the whole compensation story and
getting the world to believe it, without thereby achieving any compensation
for themselves, would be remarkably free spirits — contrary to the hypothesis."
(Ebd., 133) Daraus folgert Bittner, dass es weder einen Sklavenaufstand gege-
ben habe, noch dass das Ressentiment schöpferisch habe werden können, hält
aber mit N. daran fest, dass metaphysische und moralische Begriffe für den
Niedergang der Menschheit, ihre „madness" verantwortlich seien, während er
sich gegen N.s angebliche Hoffnungen auf eine Erlösung der Menschheit durch
große, ressentimentfreie Individuen verwahrt (ebd., 134-136).
Demgegenüber macht Bolz 2011/2012, 8 den Vorschlag, Nietzsches Ressen-
timent-Analyse in wissenschaftskritischer Absicht zu aktualisieren, indem er -
Der Beginn von GM I 10 hat zu vielen kontroversen Interpretationsanstren-
gungen Anlass gegeben. Poellner 2011, 138 hält es für unplausibel, dass, wie N.
behaupte, einige moralische Werte erst durch Ressentiment geschaffen worden
seien, vielmehr sei Ressentiment ein bloß sekundäres, parasitäres Phänomen.
GM I 10 beschreibe N. Ressentiment als negativen Affekt, den das davon betrof-
fene Individuum nicht als solchen zugebe, sondern vielmehr als moralische
Rechtschaffenheit interpretiere (Poellner 2009, 166), während N. selbst diesen
Zustand des Ressentiments als höchst unattraktiv charakterisiere (ebd., 168)
und ihn für eine Reihe disparater moralischer Phänomene verantwortlich ma-
che (Poellner 2011, 122). Solomon 1994, 104 meint demgegenüber, N. hege
„mixed feelings about resentment", weil er ja zu Beginn von GM I 10 gerade
seine schöpferische Potenz betone und es ja namentlich mit „Klugheit" (siehe
273, 1-4) gepaart sei. Auch wendet sich Solomon mit Dühring gegen N.s angeb-
liche Weigerung, anzuerkennen, dass Ressentiment ein wesentlicher Bestand-
teil unseres Gerechtigkeitsempfindens sei: Nur wenn wir in der Lage seien,
Unterdrückung und Ungerechtigkeit auch zu empfinden, d. h. uns ihrer zu er-
innern, sie zu ,ressentieren', könnten wir überhaupt eine mächtige Quelle von
menschlicher Energie und Vitalität erschließen; entsprechend sei N.s einseitige
Verurteilung des Ressentiment nicht statthaft (Solomon 1994, 112, vgl. Sommer
2017e. Elgat 2017 versucht demgegenüber, die verschiedenen Ressentimentbe-
griffe bei N. aufzufächern). Chaudhri 2016 fragt im Anschluss an und in Ab-
grenzung von Prinz 2016, wie denn das Ressentiment überhaupt auf lange
Sicht überlebensfähig habe bleiben können und stellt ungelöste Probleme in
GM beim Zusammenspiel von Historie und Psychologie fest. Bittner 1994, 128-
130 betont mit GM I 10 die notwendige Reaktivität des Ressentiments, sein An-
gewiesen-Sein auf ein Außen, ein Zweites, an dem man sich abarbeiten, gegen
das man arbeiten kann, stellt aber zugleich fest, dass das Imaginäre der Rache
der Ressentimentgepeinigten nicht wirkliche Rache sei: „they cannot actually
compensate themselves with a revenge they themselves consider imaginary
[...]. Finally, slaves capable of fabricating the whole compensation story and
getting the world to believe it, without thereby achieving any compensation
for themselves, would be remarkably free spirits — contrary to the hypothesis."
(Ebd., 133) Daraus folgert Bittner, dass es weder einen Sklavenaufstand gege-
ben habe, noch dass das Ressentiment schöpferisch habe werden können, hält
aber mit N. daran fest, dass metaphysische und moralische Begriffe für den
Niedergang der Menschheit, ihre „madness" verantwortlich seien, während er
sich gegen N.s angebliche Hoffnungen auf eine Erlösung der Menschheit durch
große, ressentimentfreie Individuen verwahrt (ebd., 134-136).
Demgegenüber macht Bolz 2011/2012, 8 den Vorschlag, Nietzsches Ressen-
timent-Analyse in wissenschaftskritischer Absicht zu aktualisieren, indem er -