Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
152 Zur Genealogie der Moral

hat in Kant zwar einen prominenten Paten, wirkt jedoch im Kontext von N.s
traditionskritischen Bemühungen und erst recht im Kontext einer Moralgenea-
logie, die jedes Unbedingte leugnet, seltsam deplatziert. Sollte N. die Evokation
einer ursprünglichen, unbedingten vornehmen Aktivität im Gegensatz zur skla-
vischen Reaktivität für bare Münze ausgegeben haben, stünde dies in funda-
mentalem Gegensatz zu dem von systematisch interessierten N.-Adepten im-
mer wieder behaupteten ,Naturalismus' N.s (vgl. ÜK GM, Abschnitt 5), für den
es schwerlich etwas jenseits einer kasual bestimmten Welt geben dürfte. Auch
wenn man die vornehme Fähigkeit zur „Aktion" schwächer fasst und Nicht-
Reaktivität schlicht als Selbstbezüglichkeit versteht, ohne sich auf kantiani-
sche Fragen ursprünglicher Freiheit und Spontaneität einzulassen, bleibt doch
die Frage, auf was für ein Selbst sich denn diese spontan-aktiven, sich selbst
bejahenden Menschen beziehen. Inwiefern sind sie einfach das, was sie sind?
Woher nehmen sie ihr Sein, wenn die Interaktion mit ihrer Umwelt keine kons-
titutive Rolle spielen darf?
Die Auszeichnung der sklavenmoralischen Haltung mit dem Begriff der
„Reaktion" zehrt auch vom negativen politischen Klang, den das Wort im
Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts hat, steht es doch für „das Bestreben,
alles wieder in den vorigen Stand zurückzubringen" (Petri 1861, 663), also den
Versuch der Restauration vormoderner Verhältnisse. So reaktionär sich manche
antidemokratischen und antimodernen Verlautbarungen N.s auch ausnehmen
(vgl. NK 264, 2-9), so wenig sehnte er doch das Ancien Regime zurück. Mit
dem politischen Sinn von „Reaktion" spielt N. auch andernorts, siehe NK
KSA 6, 424, 17-25.
271, 7-14 Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall: sie
agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber
noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, — ihr negativer Begriff „nied-
rig" „gemein" „schlecht" ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Ver-
hältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durch-
tränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glückli-
chen!"] Nicht zuletzt mit Hilfe von Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen,
die seine früheren Intuitionen bestätigte, fand N. diese Selbstbejahung bei den
vornehmen Griechen idealtypisch verwirklicht. Die griechische Sprache habe
„reichere Mittel" ausgebildet, „das sittlich hervorragende Individuum zu be-
zeichnen als die Forderungen, denen es nachlebte, zum Bewusstsein zu brin-
gen. Es prägt sich darin der die Gemüther der Griechen beherrschende Glaube
an das thatsächliche Vorhandensein menschlicher Vollkommenheit, an eine
scharfe Grenzlinie zwischen edlen und gemeinen Naturen, deutlich aus"
(Schmidt 1882b, 1, 305, N.s Unterstreichungen, am Rand mit NB und doppeltem
Randstrich markiert. Vgl. Brusotti 1992b, 134 u. Orsucci 1996, 267).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften