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158 Zur Genealogie der Moral

tetes, für den der Begriff der „edlen Natürlichkeit" (ebd., 326) angemessen er-
scheint - ein nach Schmidt sehr weit verbreitetes Motiv: „im Gesprächstone
wird öfter der andere aufgefordert, mit edler Natürlichkeit, d. h. aufrichtig, zu
antworten" (ebd., 327). Nach Platons Nomoi 679b zeichne „sich ein Zustand
der Gesellschaft, in welchem es weder Reichthum noch Armuth giebt, durch
Sitten von der edelsten Natürlichkeit aus, weil sich in ihm weder Ueberhebung
noch Ungerechtigkeit noch Eifersucht noch Neid erzeugen, es wird also der
Inhalt des Wortes der Abwesenheit dieser unlauteren Momente fast gleichge-
setzt, und zugleich drängt sich uns hier die Aehnlichkeit mit dem auf, was wir
im besten Sinne naiv zu nennen pflegen." (Ebd., 328, von N. mit Randstrich
markiert. Vgl. auch ebd., 361f.) N. wählt also aus dem reichen Fundus des Wort-
gebrauchs, den ihm Schmidt bietet, passende, mitunter gar nicht direkt als
Übersetzung („aufrichtig"!) gedachte Stichworte aus, um sie in seiner Klam-
merbemerkung zu kondensieren.
272, 29 f. Seine Seele schielt] Vgl. NK KSA 5, 53, 8-17. In der von N. gelesenen
Dostojewskij-Bearbeitung L'esprit souterrain heißt es vom verdrucksten, zu-
rückgesetzten, handlungsunfähigen Protagonisten, er habe sein ganzes Leben
lang die Menschen immer nur indirekt angeschaut, ihnen nie direkt ins Gesicht
gesehen („regarde obliquement les gens, jamais en face". Dostoievsky [1886b],
166). Orsucci 2001b, 201 führt diese Stelle an, um das Schielen des Ressenti-
ment-Menschen zu erklären.
272, 34-273, 2 Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiments wird nothwen-
dig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse] Klugheit wäre also als
eine Art Verschlagenheit quasi die Kompensation fehlender physischer Macht.
Jaspers notiert zu dieser Stelle am Rand: „vgl. Hegel Herr u Knecht" (Nietzsche
1923, 319). Es gibt in der Literatur wiederholt Versuche, die Überlegungen zu
Herren- und Sklavenmoral bei N. mit der Herr-Knecht-Dialektik in Hegels Phä-
nomenologie des Geistes in Verbindung zu bringen, vgl. z. B. Kain 1996 (Löve-
nich 1988, 357 meint sogar, N. sei, „ohne es zu wissen, ,Hegelianer"').
273, 12-17 Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm
auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es ver-
giftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es
bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist.] In einem Exzerpt zu
Schmidts Ethik der alten Griechen hat N. notiert, dass der „beste Mann" „nicht
nachzutragen geneigt" sei (NL 1883, KSA 10, 7[22], 247, 23 u. 25, vgl. dazu und
zum Folgenden Brusotti 1992b, 131). Kam unter vornehmen Griechen „die Fra-
ge" auf, „ob man verzeihen solle oder nicht, so galt für ihre Beantwortung die
seit dem Augenblicke der Beleidigung verflossene Zeit als ein sehr wichtiger
Faktor" (Schmidt 1882b, 2, 315). Während Rache und Zorn als unmittelbarer
 
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