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164 Zur Genealogie der Moral

274, 11 eine Complementärfarbe] „Werden sämtliche Spektralfarben wieder
miteinander gemischt, etwa dadurch, daß man sie durch eine Linse wieder
vereinigt, so geben sie wieder Weiß; läßt man aber eine davon weg, so geben
die übrigen eine Mischfarbe, welche sich aber sofort in Weiß verwandelt, wenn
man die weggelassene Farbe wieder hinzutreten läßt. Solche F., welche zusam-
men Weiß geben oder sich zu Weiß ,ergänzen', heißen deswegen Komplemen-
tärfarben oder Ergänzungsfarben, z. B. Rot und Grünlichblau, Orange und Cy-
anblau, Gelb und Indigblau, Grünlichgelb und Violett." (Meyer 1885-1892, 6,
32) „Complementärfarbe" ist also entgegen der Suggestion von GM I 11 - N.
benutzt den Ausdruck sonst nirgends - im zeitgenössischen Sprachgebrauch
keineswegs eine abgeleitete, nachgeordnete, zweitrangige Farbe, sondern bloß
eine, die im Zusammenspiel mit anderen Farben Weiß herbeiführt: „Komple-
mentärfarben, Ergänzungsfärben, diejenigen Farben, die in ihrer Vereinigung
weißes Licht geben. Nach Helmholtz sind folgende nebeneinander gestellte
Farbenpaare komplementär: Rot-Grünblau, Orange-Blau, Goldgelb-Blau, Gelb-
Indigblau, Grüngelb-Violett." (Brockhaus 1894-1896, 10, 533 f.) Rot, Blau und
Gelb sind immerhin auch Grundfarben, also keineswegs sekundär oder nach-
rangig.
274, 23-275, 3 und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Vereh-
rung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Ei-
fersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zu
einander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz
und Freundschaft sich beweisen, — sie sind nach Aussen hin, dort wo das Frem-
de, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. Sie genies-
sen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss
schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedigung
in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-
Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer] GM I 11 inszeniert wirkungs-
voll den Gegensatz zwischen dem Verhalten der Vornehmen untereinander und
ihrem Verhalten gegenüber Schwächeren, dem gemeinen Volk. Das Modell für
das ehrerbietige, ja rücksichtsvolle Verhalten der Elite-Angehörigen unterein-
ander gibt, ohne dass das hier historisch tatsächlich konkretisiert würde,
wohl zur Hauptsache wieder der aristokratische Ehrenkodex in der griechi-
schen Archaik ab. Aber zu suggerieren, diese Rücksichtnahme untereinander
bei gleichzeitiger Brachialität und Grausamkeit gegenüber Dritten sei so etwas
wie ein ursprünglicher sozialer Zustand (dem womöglich sogar so etwas wie
überzeitliche normative Kraft zukommen soll), erweckt den Anschein romanti-
scher Idealisierung - hier wohl in dezidiert polemischer Absicht: Wäre es
machtlogisch nicht viel plausibler, sich die Starken der historischen Vergan-
genheit in ständiger kriegerischer Auseinandersetzung untereinander, in un-
 
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