166 Zur Genealogie der Moral
Naturzustandstheorien, kann er doch auf Spekulationen darüber verzichten,
wie es ,ursprünglich' war; er handelt sich damit aber zugleich das Problem
ein, dass das aggressive Verhalten der angeblich Vornehmen gegenüber den
Schwächeren auch bloß reaktiv ist, nämlich die Folge jener ,strukturellen Ge-
walt', die unter Vornehmen zu herrschen pflegt und die dort kein Ventil findet.
Der Vorwurf an die Adresse der „Sklaven-Moral", bloß reaktiv zu sein, lässt
sich postwendend an die sich raubtierhaft Gebärdenden zurückadressieren:
Auch sie sind, was sie sind, offensichtlich nur in Reaktion auf vorgegebene
Machtstrukturen und keineswegs aus freier, spontaner, schöpferischer Tat.
274, 26 inter pares] Lateinisch: „unter Gleichen".
275, 6-8 wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon,
dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben]
Der verharmlosende Vergleich der Gräueltaten mit einem „Studentenstreich"
(N. benutzt den Ausdruck sonst nirgends) zielt sichtlich darauf ab, den mora-
listisch erregten Leser zu empören, auch wenn es im vormodernen Studenten-
leben, als die Jurisdiktionsgewalt über alle Angehörigen weitgehend bei der
Universität selbst lag, mitunter sehr rüde und roh hergegangen sein mag - so
sehr, dass noch zu N.s Zeit ein gängiges Lehrbuch der Pädagogik beschwichti-
gend meint, man solle sich hüten, „jeden sog. ,Studentenstreich' gleich zu ver-
dammen und über denselben Zeter zu rufen. Nicht jeder jugendliche Muthwille
ist gleich vom sittlichen Standpunkte aus anzuklagen." (Stöckl 1873, 450) Ge-
billigt werden vom besorgten Pädagogen freilich nur „,Studentenstreiche', de-
nen das Gepräge der Unsittlichkeit und Rohheit fern liegt" (ebd.), was wieder-
um anzeigt, dass dies oft nicht der Fall war. „Studentenstreich" wurde für toll-
kühne, namentlich militärische Operationen durchaus auch in übertragenem
Sinn verwendet, etwa wenn Goethe im Tagebuch am 22. Juli 1808 notierte:
„Studentenstreich [Zar] Alexanders [I.] und [König] Friedr. Wilh. [III.] gegen die
feindl. Vorposten" (Goethe 1889, 363). Dass die menschlichen „Raubthiere" bei
N. daran gedacht haben könnten, ihrer Taten würden „die Dichter" rühmend
gedenken, passt nicht so recht zu ihrer doch augenscheinlich wenig musisch
orientierten Blindwütigkeit und eigentlich auch nicht dazu, dass es wenig he-
roisch erscheint, Schwächere zu massakrieren. Zudem würde die Hoffnung auf
Dichterlob eine Selbstreflexivität voraussetzen, die in starker Spannung zum
Bild des unmittelbar, unvermittelt und brachial Handelnden steht: Schwer vor-
stellbar ist, dass sich die homerischen Helden Gedanken darüber gemacht ha-
ben sollten, wie sie bei den physisch schwachen, ja sogar blinden Dichtern
ankommen.
275, 9-16 Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die
prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu
Naturzustandstheorien, kann er doch auf Spekulationen darüber verzichten,
wie es ,ursprünglich' war; er handelt sich damit aber zugleich das Problem
ein, dass das aggressive Verhalten der angeblich Vornehmen gegenüber den
Schwächeren auch bloß reaktiv ist, nämlich die Folge jener ,strukturellen Ge-
walt', die unter Vornehmen zu herrschen pflegt und die dort kein Ventil findet.
Der Vorwurf an die Adresse der „Sklaven-Moral", bloß reaktiv zu sein, lässt
sich postwendend an die sich raubtierhaft Gebärdenden zurückadressieren:
Auch sie sind, was sie sind, offensichtlich nur in Reaktion auf vorgegebene
Machtstrukturen und keineswegs aus freier, spontaner, schöpferischer Tat.
274, 26 inter pares] Lateinisch: „unter Gleichen".
275, 6-8 wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon,
dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben]
Der verharmlosende Vergleich der Gräueltaten mit einem „Studentenstreich"
(N. benutzt den Ausdruck sonst nirgends) zielt sichtlich darauf ab, den mora-
listisch erregten Leser zu empören, auch wenn es im vormodernen Studenten-
leben, als die Jurisdiktionsgewalt über alle Angehörigen weitgehend bei der
Universität selbst lag, mitunter sehr rüde und roh hergegangen sein mag - so
sehr, dass noch zu N.s Zeit ein gängiges Lehrbuch der Pädagogik beschwichti-
gend meint, man solle sich hüten, „jeden sog. ,Studentenstreich' gleich zu ver-
dammen und über denselben Zeter zu rufen. Nicht jeder jugendliche Muthwille
ist gleich vom sittlichen Standpunkte aus anzuklagen." (Stöckl 1873, 450) Ge-
billigt werden vom besorgten Pädagogen freilich nur „,Studentenstreiche', de-
nen das Gepräge der Unsittlichkeit und Rohheit fern liegt" (ebd.), was wieder-
um anzeigt, dass dies oft nicht der Fall war. „Studentenstreich" wurde für toll-
kühne, namentlich militärische Operationen durchaus auch in übertragenem
Sinn verwendet, etwa wenn Goethe im Tagebuch am 22. Juli 1808 notierte:
„Studentenstreich [Zar] Alexanders [I.] und [König] Friedr. Wilh. [III.] gegen die
feindl. Vorposten" (Goethe 1889, 363). Dass die menschlichen „Raubthiere" bei
N. daran gedacht haben könnten, ihrer Taten würden „die Dichter" rühmend
gedenken, passt nicht so recht zu ihrer doch augenscheinlich wenig musisch
orientierten Blindwütigkeit und eigentlich auch nicht dazu, dass es wenig he-
roisch erscheint, Schwächere zu massakrieren. Zudem würde die Hoffnung auf
Dichterlob eine Selbstreflexivität voraussetzen, die in starker Spannung zum
Bild des unmittelbar, unvermittelt und brachial Handelnden steht: Schwer vor-
stellbar ist, dass sich die homerischen Helden Gedanken darüber gemacht ha-
ben sollten, wie sie bei den physisch schwachen, ja sogar blinden Dichtern
ankommen.
275, 9-16 Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die
prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu