Stellenkommentar GM I 11, KSA 5, S. 275 169
operees par le vandalisme von 1794/95 das Wort „Vandalismus" prägte (vgl.
Demandt 1997). N., der abgesehen von seiner jugendlichen Beschäftigung mit
Völkerwanderungsgeschichte (NL 1863/64, KGW I 3, 16[3], 245) auf die Vanda-
len nirgends einging, benutzte im übertragenen Sinn „Vandalisirung" durch-
aus (N. an Köselitz, 08. 08. 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 886, S. 122, Z. 36). Den
ebenfalls ostgermanischen Goten haftete in der Nachwelt kaum ein besserer
Ruf, auch wenn sie es nicht zum allgemein gebräuchlichen Abstractum ,Gothi-
sierung' oder ,Gothismus' brachten. Freilich hat schon der deutsche Humanis-
mus des 16. Jahrhunderts mit der Wiederentdeckung von Tacitus' Germania
und ersten nationalen Selbstdefinitionsversuchen durchaus das Eigene in
wohlwollender Anknüpfung an Goten und Vandalen zu schärfen versucht.
Auffällig am Barbaren-Rekurs in GM I 11 ist, dass es sich nach der Schilde-
rung bei den so Bezeichneten nicht einfach um völlig enthemmte Wilde gehan-
delt hat, sondern um Menschen, die einerseits schon - unter Ihresgleichen -
einen hochentwickelten und zugleich rigiden Sozialisierungsstand erreicht zu
haben schienen, sich aber andererseits in ihrer Außenwirkung unmäßig grau-
sam zeigten. Diese Barbaren haben zugleich an „civilization and wilderness"
teil (Conway 2006, 310). Damit schließt GM an eine geschichtsphilosophische
Tradition aus dem 18. Jahrhundert an, die die Menschen des Naturzustandes,
die ,Wilden' gerade nicht mit den Barbaren gleichsetzt, sondern vielmehr als
eine Zwischenstufe zwischen dem wilden und dem zivilisierten Zustand ansetzt
(vgl. Kaufmann 2017, 17-21 u. Sommer 2006b, 255 u. 262 f.).
275, 20-23 zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühm-
ten Leichenrede, „zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg
gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und Schlimmen
aufrichtend"] Gemeint ist der Epitaphios oder die Gefallenenrede, die der athe-
nische Staatsmann Perikles 431/30 v. Chr. auf die Gefallenen im ersten Jahr des
Peloponnesischen Krieges gehalten haben soll, und die Thukydides im Pelo-
ponnesischen Krieg II 35-46 wiederzugeben beansprucht. Die in 275, 21-23 auf-
gerufene Stelle steht bei Thukydides II 41. N. scheint hier nicht auf Schmidt
1882b zurückzugreifen, sondern auf die Thukydides-Übersetzung von Adolf
Wahrmund, die sich in seiner Bibliothek befunden hat und wo die entspre-
chende Seite mit einem Eselsohr versehen ist: „Unter großen redenden Bewei-
sen und gewißlich nicht unbezeugt haben wir unsere Macht entfaltet und wer-
den darum von den Lebenden und den Zukünftigen bewundert werden, und
wir bedürfen weder eines Homer als Lobredners noch sonst eines Andern, der
mit seinen Gesängen zwar für den Augenblick ergötzt, aber bald wird die Wirk-
lichkeit seine Anschauung der Dinge Lügen strafen, sondern zu allem Land
und Meer hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, überall sich unver-
gängliche Denkmale im Guten und Bösen gründend." (Thukydides 1861, 128)
operees par le vandalisme von 1794/95 das Wort „Vandalismus" prägte (vgl.
Demandt 1997). N., der abgesehen von seiner jugendlichen Beschäftigung mit
Völkerwanderungsgeschichte (NL 1863/64, KGW I 3, 16[3], 245) auf die Vanda-
len nirgends einging, benutzte im übertragenen Sinn „Vandalisirung" durch-
aus (N. an Köselitz, 08. 08. 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 886, S. 122, Z. 36). Den
ebenfalls ostgermanischen Goten haftete in der Nachwelt kaum ein besserer
Ruf, auch wenn sie es nicht zum allgemein gebräuchlichen Abstractum ,Gothi-
sierung' oder ,Gothismus' brachten. Freilich hat schon der deutsche Humanis-
mus des 16. Jahrhunderts mit der Wiederentdeckung von Tacitus' Germania
und ersten nationalen Selbstdefinitionsversuchen durchaus das Eigene in
wohlwollender Anknüpfung an Goten und Vandalen zu schärfen versucht.
Auffällig am Barbaren-Rekurs in GM I 11 ist, dass es sich nach der Schilde-
rung bei den so Bezeichneten nicht einfach um völlig enthemmte Wilde gehan-
delt hat, sondern um Menschen, die einerseits schon - unter Ihresgleichen -
einen hochentwickelten und zugleich rigiden Sozialisierungsstand erreicht zu
haben schienen, sich aber andererseits in ihrer Außenwirkung unmäßig grau-
sam zeigten. Diese Barbaren haben zugleich an „civilization and wilderness"
teil (Conway 2006, 310). Damit schließt GM an eine geschichtsphilosophische
Tradition aus dem 18. Jahrhundert an, die die Menschen des Naturzustandes,
die ,Wilden' gerade nicht mit den Barbaren gleichsetzt, sondern vielmehr als
eine Zwischenstufe zwischen dem wilden und dem zivilisierten Zustand ansetzt
(vgl. Kaufmann 2017, 17-21 u. Sommer 2006b, 255 u. 262 f.).
275, 20-23 zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühm-
ten Leichenrede, „zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg
gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und Schlimmen
aufrichtend"] Gemeint ist der Epitaphios oder die Gefallenenrede, die der athe-
nische Staatsmann Perikles 431/30 v. Chr. auf die Gefallenen im ersten Jahr des
Peloponnesischen Krieges gehalten haben soll, und die Thukydides im Pelo-
ponnesischen Krieg II 35-46 wiederzugeben beansprucht. Die in 275, 21-23 auf-
gerufene Stelle steht bei Thukydides II 41. N. scheint hier nicht auf Schmidt
1882b zurückzugreifen, sondern auf die Thukydides-Übersetzung von Adolf
Wahrmund, die sich in seiner Bibliothek befunden hat und wo die entspre-
chende Seite mit einem Eselsohr versehen ist: „Unter großen redenden Bewei-
sen und gewißlich nicht unbezeugt haben wir unsere Macht entfaltet und wer-
den darum von den Lebenden und den Zukünftigen bewundert werden, und
wir bedürfen weder eines Homer als Lobredners noch sonst eines Andern, der
mit seinen Gesängen zwar für den Augenblick ergötzt, aber bald wird die Wirk-
lichkeit seine Anschauung der Dinge Lügen strafen, sondern zu allem Land
und Meer hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, überall sich unver-
gängliche Denkmale im Guten und Bösen gründend." (Thukydides 1861, 128)