174 Zur Genealogie der Moral
schüchterung und des Zwanges" beginne (ebd., 164, von N. mit Randstrich
versehen). Espinas spricht nicht wie GM I 11 über domestizierte Menschen, son-
dern über domestizierte Wildtiere, für deren Verhältnis zum Menschen gelte:
„Kurz, die Domestication ist ein Fall von Gegenseitigkeit, eine Gesellschaft, in
der die Dienste [...] wechselseitig sind" (ebd., 173). Und Espinas resümiert:
„Eine Gesellschaft kann sich nur so bilden, dass der eine Theil die Leitung
übernimmt und der andere sich ihm unterordnet." (Ebd., 175) Vor diesem sozio-
biologischen Hintergrund fragt sich, wer nach dem dualistischen Schema
Raubtier/Haustier in GM I 11 eigentlich das domestizierende Subjekt ist. Die na-
heliegende Antwort ist eindeutig, nämlich die Schwachen, Zu-Kurz-Gekomme-
nen, Ressentiment-Beladenen: Sie wollten die Raubtiere zähmen und scheinen
damit auch Erfolg gehabt zu haben. Das Problem dabei ist nur, dass diese Ant-
wort im applizierten soziobiologischen Schema der Domestikation völlig unplau-
sibel anmutet: Es wäre so, als würde die Schafsherde den Wolf oder die Blattläu-
se die Ameisen zähmen - ein angesichts der physischen Machtverhältnisse
ziemlich unwahrscheinliches Szenario. Warum aber haben sich die menschli-
chen Raubtiere zähmen lassen, während sie doch in ihrer Gewaltsamkeit den
weniger mordlustigen Menschen physisch so weit überlegen waren? Wie haben
sich die reaktiven Instinkte der Schwachen, Ressentiment eingeschlossen,
durchsetzen können? Etwa durch Geist (vgl. GM I 7, KSA 5, 267, 4-7), gegen den
am Ende keine bestialische Blutrünstigkeit gewachsen ist?
Der Begriff der Züchtung ist in N.s Werken oft in provokatorischer Absicht
biologisch konnotiert, vgl. z. B. NK KSA 6, 99, 5-8. Salanskis 2016 weist darauf
hin, dass in der ersten Darwin-Übersetzung von Heinrich Georg Bronn (1860)
„natural selection" mit „natürlicher Züchtung" wiedergegeben wurde, was N.
von Dühring her bekannt war (NL 1875, KSA 8, 9[1], 161, l f.). Züchtungsvorstel-
lungen bleiben auch in N.s späten Schriften stets mehr oder weniger ungebete-
ne Gäste. Dass Züchtung viel mit Gewalt zu tun hat, macht GM II im Blick auf
die Frage deutlich, wie Menschen überhaupt Gedächtnis entwickeln (vgl.
NK 291, 5-7).
Die Wendung „Werkzeug der Kultur" hat augenscheinlich Johann Gottfried
Herder geprägt: In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
unterscheidet er zwischen dem „Werkzeuge der Cultur", nämlich der Sprache,
und der „Cultur selbst" (Herder 1841, 338); in der 7. Sammlung der Briefe zu
Beförderung der Humanität handelt der 81. Brief „Vom Unterschiede der alten
und neuen Völker in der Poesie, als Werkzeug der Cultur und Humanität be-
trachtet" (Herder 1796, V). Reservierte Herder selbst die Formel für Sprache
und Poesie, wurde sie im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker politisiert, so in
der vom Rechtshegelianer Constantin Rößler anonym publizierten Schrift Der
Grundsatz der Nationalität und das europäische Staatensystem: „Den Völkern
schüchterung und des Zwanges" beginne (ebd., 164, von N. mit Randstrich
versehen). Espinas spricht nicht wie GM I 11 über domestizierte Menschen, son-
dern über domestizierte Wildtiere, für deren Verhältnis zum Menschen gelte:
„Kurz, die Domestication ist ein Fall von Gegenseitigkeit, eine Gesellschaft, in
der die Dienste [...] wechselseitig sind" (ebd., 173). Und Espinas resümiert:
„Eine Gesellschaft kann sich nur so bilden, dass der eine Theil die Leitung
übernimmt und der andere sich ihm unterordnet." (Ebd., 175) Vor diesem sozio-
biologischen Hintergrund fragt sich, wer nach dem dualistischen Schema
Raubtier/Haustier in GM I 11 eigentlich das domestizierende Subjekt ist. Die na-
heliegende Antwort ist eindeutig, nämlich die Schwachen, Zu-Kurz-Gekomme-
nen, Ressentiment-Beladenen: Sie wollten die Raubtiere zähmen und scheinen
damit auch Erfolg gehabt zu haben. Das Problem dabei ist nur, dass diese Ant-
wort im applizierten soziobiologischen Schema der Domestikation völlig unplau-
sibel anmutet: Es wäre so, als würde die Schafsherde den Wolf oder die Blattläu-
se die Ameisen zähmen - ein angesichts der physischen Machtverhältnisse
ziemlich unwahrscheinliches Szenario. Warum aber haben sich die menschli-
chen Raubtiere zähmen lassen, während sie doch in ihrer Gewaltsamkeit den
weniger mordlustigen Menschen physisch so weit überlegen waren? Wie haben
sich die reaktiven Instinkte der Schwachen, Ressentiment eingeschlossen,
durchsetzen können? Etwa durch Geist (vgl. GM I 7, KSA 5, 267, 4-7), gegen den
am Ende keine bestialische Blutrünstigkeit gewachsen ist?
Der Begriff der Züchtung ist in N.s Werken oft in provokatorischer Absicht
biologisch konnotiert, vgl. z. B. NK KSA 6, 99, 5-8. Salanskis 2016 weist darauf
hin, dass in der ersten Darwin-Übersetzung von Heinrich Georg Bronn (1860)
„natural selection" mit „natürlicher Züchtung" wiedergegeben wurde, was N.
von Dühring her bekannt war (NL 1875, KSA 8, 9[1], 161, l f.). Züchtungsvorstel-
lungen bleiben auch in N.s späten Schriften stets mehr oder weniger ungebete-
ne Gäste. Dass Züchtung viel mit Gewalt zu tun hat, macht GM II im Blick auf
die Frage deutlich, wie Menschen überhaupt Gedächtnis entwickeln (vgl.
NK 291, 5-7).
Die Wendung „Werkzeug der Kultur" hat augenscheinlich Johann Gottfried
Herder geprägt: In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
unterscheidet er zwischen dem „Werkzeuge der Cultur", nämlich der Sprache,
und der „Cultur selbst" (Herder 1841, 338); in der 7. Sammlung der Briefe zu
Beförderung der Humanität handelt der 81. Brief „Vom Unterschiede der alten
und neuen Völker in der Poesie, als Werkzeug der Cultur und Humanität be-
trachtet" (Herder 1796, V). Reservierte Herder selbst die Formel für Sprache
und Poesie, wurde sie im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker politisiert, so in
der vom Rechtshegelianer Constantin Rößler anonym publizierten Schrift Der
Grundsatz der Nationalität und das europäische Staatensystem: „Den Völkern